Sexuelle Übergriffe: Deshalb hat das Klinikum jetzt eine zweite Missbrauchsbeauftragte

Kreis Lippe. Ein Assistenzarzt betäubt und vergewaltigt reihenweise Patientinnen - diese Horrorvorstellung wurde knapp 30 Kilometer entfernt am evangelischen Klinikum Bethel in Bielefeld Realität. Auch in Lippe hat der Fall Spuren hinterlassen. Mit Bekanntwerden der Vergewaltigungsserie hat das hiesige Klinikum sein eigenes Schutzkonzept genau geprüft und vergangenes Jahr seinen ersten Missbrauchsbeauftragten installiert. Dennoch kommt es im April dieses Jahres am Standort in Lemgo durch eine Putzkraft zu sexuellen Übergriffen an Patientinnen. Für das Klinikum Lippe ist es der bisher schwerste Vorfall dieser Art. Die Übergriffe bleiben auch intern nicht folgenlos. Saskia Pellkofer-Spiegel meldet sich initiativ, um die Präventionsarbeit mit ihrem Kollegen Wolfhardt Müther zu stärken. Das hat persönliche Gründe.

Frau Pellkofer-Spiegel , bei diesem Thema kann man nur direkt einsteigen. Die Staatsanwaltschaft hat jetzt Anklage wegen sexueller Übergriffe am Klinikum Lippe erhoben. Der beschuldigte Mann, eine Reinigungskraft, soll vier Patientinnen in Lemgo sexuell belästigt haben. Was hat der Fall mit Ihnen gemacht?

Saskia Pellkofer-Spiegel : Es hat mich erschüttert. Es ist an Grausamkeit kaum zu übertreffen. Ich als Frau empfinde Ekel, aber auch Angst bei dem Gedanken, dass man Übergriffen derart ausgeliefert sein muss. Wenn es sich dann auch noch beim Täter um jemanden, mehr oder weniger, aus den eigenen Reihen handelt, selbst wenn man denjenigen nicht persönlich kennt, macht das noch fassungsloser. Es macht mich wütend, dass jemand zu so etwas in der Lage ist und dass wir das nicht verhindern konnten. Deshalb sitze ich jetzt hier.

Erklären Sie das gerne.

Dieser Vorfall war der Grund, weshalb ich mich für diese Stelle angeboten habe. Ich arbeite seit mehr als 20 Jahren im Klinikum, meine Hauptaufgabe liegt in der Dermatologie-Ambulanz. Es war mir daher ein inneres Anliegen - als Mensch, als Frau und auch als Mitarbeiterin. Ich hab gedacht, wir haben zwar einen Missbrauchsbeauftragten, aber die Betroffenen waren in diesem konkreten Fall ausschließlich Frauen. Und wenn man als Frau belästigt wird, gerade in so einer perfiden Art und Weise, dann ist es doch ganz gut, wenn man sich einer Frau anvertrauen kann. Das würde ich mir zumindest wünschen.

Seit Mai gibt es daher ein Duo aus Frau und Mann als Anlaufstelle in Sachen Missbrauch und Diskriminierung . Wie ist der Gesprächsbedarf bisher?

Es ist sicher ein Prozess, mein Kollege und ich haben uns erst einmal zusammengesetzt, Strategien entwickelt und Konzepte ausgearbeitet. Gerade stecke ich viel in der Risikoanalyse. Es ist nicht so, als würde das Telefon durchklingeln. Das hat bestimmt auch mit einer Vertrauensbasis zu tun, die entstehen muss. Uns ist einfach wichtig, dass alle Bescheid wissen, dass jemand da ist, der wertfrei zuhört, wenn es Probleme gibt. Wir haben daher als erstes Flyer konzipiert und verteilt. Mit unseren Gesichtern und Telefonnummern drauf. Alle wissen: Wir sind da. Ich habe diesen Beruf ja irgendwann mit der Intention angefangen, Menschen zu helfen. Und wenn ich das jetzt auf diese Art machen kann, wenn ich mitwirken kann, auf lange Sicht Maßnahmen zu stärken und uns breiter aufzustellen, dass wir möglicherweise eingreifen können, bevor etwas passiert, dann haben wir schon viel erreicht.

Sexuelle Übergriffe zu verhindern und Täter zu enttarnen, ist natürlich eine ungeheure Aufgabe.

Man kann den Menschen nur vor den Kopf gucken, das ist ja das Erschreckende. Aber wir können uns hinstellen und ein Zeichen setzen, das abschreckend wirkt. Man muss genau hinschauen und hinhören, auch wenn das manchmal nicht so bequem ist oder man es vielleicht gar nicht will. Denn gerade das ist elementar wichtig bei Patienten oder Menschen, die nicht in der Lage sind, ihre eigenen Grenzen zu kommunizieren. Diese Menschen sind darauf angewiesen, dass man doppelt und dreifach hinschaut und einen Blick füreinander hat. Wir sind dafür da, Denkanstöße zu bieten, Zivilcourage zu fördern und Maßnahmen zu entwickeln, damit sich Patientinnen und Patienten hier genauso wie unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sicher fühlen.

Welche Maßnahmen sind das konkret? Wir bieten ab Dezember Schulungen an und wollen diese später in Kleingruppen weiterführen, um für Themen wie sexuelle Belästigung und Grenzüberschreitungen zu sensibilisieren. Bei vielen herrscht ja direkt auch Unsicherheit, frei nach dem Motto was darf ich eigentlich noch? Uns geht es darum, das Bewusstsein zu schärfen. Wir gehen allen Vorwürfen nach, aber ebenso werden Beschwerden auf Falschbehauptungen geprüft. Auch so etwas muss unterbunden werden. Manche Dinge tut man vielleicht gerne als Lappalien ab, dabei steckt vielleicht mehr dahinter. Jeder hat ein sehr individuelles Empfinden. Sobald sich Begegnungen nicht richtig anfühlen oder unangenehm nachhallen, sind sie es auch nicht - und das hat man zu akzeptieren.

Und was dann?

Die Probleme müssen dann zumindest kommuniziert werden. Man kann nicht einfach sagen, stell dich nicht so an oder du bist einfach zu sensibel. Diese erste Anlaufstelle möchten wir sein und genauso möchten wir anderen das Thema näherbringen, möglicherweise auch mit Rollenspielen, um gewisse Dinge wieder ins Gedächtnis zu rufen. Wir helfen als erste Anlaufstelle dabei, weitere Schritte einzuleiten, wenn das nötig ist. In den meisten Fällen reicht ja schon ein klärendes Gespräch. Ganz praktisch gedacht, sind wir neulich über das Gelände gegangen und haben uns umgeschaut, wo es möglicherweise schlecht beleuchtete Ecken gibt, die wir mit einfachen Mitteln sicherer machen können.

Gibt es da viel zu tun auf einem Krankenhausgelände? Ich kann es nicht genau beziffern, wir haben aber einige Schwachstellen ausgemacht und diese dementsprechend mitgeteilt. Dagegen werden jetzt auch Vorkehrungen getroffen. Manche Punkte lassen sich ja ganz leicht mit zusätzlichem Licht, einem Bewegungsmelder oder einem Spiegel verbessern. Es ist schön, wenn man sieht, dass es Reaktionen gibt und direkt etwas getan wird. Jeder Mensch, egal ob Mitarbeiter oder Patient, sollte sich hier im Haus sicher fühlen.

Wen müssen Sie denn eher schützen, die Patientinnen und Patienten oder die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Das lässt sich so nicht sagen. Es gibt nicht die "bösen Patienten" und genauso wenig die "bösen Mitarbeiter". Meist stecken Kommunikationsprobleme innerhalb der verschiedenen Ebenen dahinter - und davon gibt es im Krankenhauskosmos einige. Ob zwischen Pflegekraft und Patientin, unter Kolleginnen oder zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden. Gerade im Krankenhaus ist es bei körperlichen Untersuchungen noch dazu ein schmaler Grat zwischen professionellen Grenzüberschreitungen und unerwünschten. Dafür gibt es schon lange feste Regeln. Alles läuft nach dem Vier-Augen-Prinzip ab und es wird immer darauf geachtet, dass ein gleichgeschlechtlicher Part im Raum gewisse Untersuchungen übernimmt. Auf der anderen Seite gibt es gelegentlich auch Patientinnen und Patienten, die übergriffig werden.

Das heißt genau?

Besonders in der Notaufnahme müssen die Kolleginnen und Kollegen schon einige Dinge ertragen, die oft nicht im Bereich des Aushaltbaren sind. Deshalb kommt hin und wieder die Polizei, die dann unser Hausrecht durchsetzt und Menschen herausbringt. Es gibt aggressive Patienten, die massiv übers Ziel hinausschießen. Entweder durch Aggressionen, durch rassistische Äußerungen oder Alltagssexismus. Das ist ein großer Punkt. Und ich finde, da dürfen sich auch unsere Pflegekräfte bei Weitem nicht alles gefallen lassen - genauso wenig wie Ärztinnen und Ärzte. Wir haben Leitlinien, wir haben eine Hausordnung. Auch Patientinnen und Patienten müssen Grenzen wahren.

Absolut, das gilt für alle Seiten. Wie vermitteln Sie das ?

Es geht nur mit Regeln und gegenseitigem Respekt. Das erwarten wir von allen, die dieses Haus betreten - genauso wie im Leben außerhalb dieses Krankenhauses. Das fängt ja schon oft bei der persönlichen Einstellung zu anderen Menschen an, bei fehlendem Respekt gegenüber Schutzbefohlenen, anderen Geschlechtern, anderen Altersgruppen etc. Wir haben eine Fürsorgepflicht, dafür sind wir jeden Tag hier. Deswegen machen wir diesen Beruf, um Patientinnen und Patienten zu helfen und sie zu heilen. Oft genügt also eine offene Ansprache, wenn es Probleme im Umgang miteinander gibt. Wir müssen genauso für die Kolleginnen und Kollegen da sein, ihnen das Gefühl geben: Ihr seid hier nicht alleine, und wir sind eine Gemeinschaft.

Wo gibt es denn häufig besonders kritische Momente im Umgang miteinander?

Manchmal schaukelt es sich hoch, wenn der Patient unzufrieden ist mit der Behandlung oder vor allem noch Schmerzen hat, da kommt dann eins zum anderen. Aber im Endeffekt sind wir ja alles Menschen. Menschen, die mit einer gewissen Einstellung groß geworden sind, die manchmal wirklich nicht zu rechtfertigen ist. Wir als Missbrauchsbeauftragte sorgen dann für eine entsprechende Deeskalation oder am besten dafür, dass es erst gar nicht eskaliert. Gleichzeitig sind wir aber auch wachsam und verweisen auf drohende Konsequenzen, wenn sich nicht an eine angemessene und respektvolle Kommunikation gehalten wird.

Sie setzen sich gegen jede Form der Diskriminierung ein. Stichwort Alltagsrassismus. Das Klinikum Lippe hat viele ausländische Ärztinnen und Ärzte dazu bekommen. Schürt das im Arbeitsalltag Ängste oder Hass?

Also ich glaube, wir Kolleginnen und Kollegen, wissen es alle sehr zu schätzen, dass die ausländischen Kräfte uns unterstützen, die sind sehr qualifiziert und eine tolle Hilfe für uns. Herr Müther als Integrationsbeauftragter sei Dank , denn der ist da ja sehr engagiert. Wie das in den Köpfen des einzelnen aussieht, weiß ich natürlich nicht. Es sind eben auch Patientinnen und Patienten, die manchmal unbedachte Äußerungen treffen. Da hilft nur die direkte Ansprache. Rassistische Anfeindungen dulden wir hier nicht.

Bald werden die sexuellen Übergriffe aus dem Frühjahr in einem Gerichtssaal strafrechtlich aufgearbeitet. Hat sich die Stimmung innerhalb des Krankenhauses eigentlich dadurch verändert?

Ich glaube schon, dass es danach zu einer gewissen Unsicherheit kam - auch unter Kolleginnen und Kollegen. Das spricht ja komplett gegen unser Berufsethos, und genauso geht es um das eigene Sicherheitsgefühl. Solche Vorfälle nimmt man auch mit nach Hause. Man möchte sich ja als Frau sicher fühlen, und das ist natürlich nicht immer gegeben. Das erklärt vielleicht auch, warum ich so engagiert dabei bin. Wir sind auf einem guten Weg, das macht mich stolz. Weil wir Gesicht zeigen und deutlich machen, dass wir uns damit befassen. Und solange nichts passiert, ist das ein gutes Zeichen. Das soll so bleiben.

Anlaufstelle für vertrauensvolle Gespräche Saskia Pellkofer-Spiegel (39) und ihr Kollege Wolfhardt Müther haben einen breiten Verantwortungsbereich. Sie sind im Klinikum Ansprechpersonen "bei Gewalt und Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Rasse, ethnischer Herkunft, Religion und Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Identität, aus persönlichen Gründen oder durch Falschbehauptungen". Patienten und Patientinnen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können sich beim Duo melden, wenn sie grenzüberschreitendes Fehlverhalten erlebt haben oder selbst betroffen sind. "Wir bieten Ihnen einen geschützten Raum, ein vertrauliches Gespräch und unsere Hilfe an", heißt es auf dem Flyer, der im ganzen Klinikum verteilt worden sei. Darauf weisen die Verfasser ebenfalls darauf hin, dass es sich bei Missbrauch um eine Straftat handelt, "die zur Anzeige gebracht werden muss und mit einer Gefängnisstrafe geahndet werden kann". Die Beauftragten gehen allen Vorwürfen gründlich nach, heißt es.

Sexuelle Übergriffe bald vor Gericht Es sind unbegreifliche Vorfälle, die sich am Klinikum in Lemgo aus Sicht der Staatsanwaltschaft abgespielt haben. Ein 59-Jähriger soll sich an vier Patientinnen auf der Pneumologiestation in Lemgo sexuell vergangen haben. Mutmaßlich soll der Mann sich als Enkel ausgegeben und die Patientinnen unter der Decke angefasst haben. Eine Betroffene habe sich einer Krankenschwester anvertraut, die umgehend die Vorgesetzten informierte. Die Geschäftsführung habe dann die Ermittlungsbehörden informiert. Der beschuldigte Mann wurde Mitte April an seinem Arbeitsplatz festgenommen. Seit April sitzt der bis zu den Vorfällen als Reinigungskraft bei der "ahr Lippe Dienstleistungen GmbH (aLD)", einer Tochterfirma des Klinikum Lippe, beschäftigte in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft Detmold hat inzwischen Anklage erhoben. Ein Verhandlungstermin steht noch nicht fest.

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