Warum nur wenige Frauen nach Sexualdelikten Spuren im Klinikum Lippe sichern lassen

Kreis Lippe. Der braune Pappkarton wirkt wie eine ganz gewöhnliche Kiste. Was drin steckt, kann vor Gericht eine große Rolle spielen - und Straftäter sogar lange nach dem Verbrechen hinter Gittern bringen. Zumindest dann, wenn Betroffene sich dazu durchringen, die Box zu nutzen. Denn in dem Karton mit der Chiffrenummer werden Spuren eingelagert, die Betroffene nach einem Sexualdelikt anonym im Klinikum Lippe sichern lassen können.

Das Angebot ist kostenlos, freiwillig, streng vertraulich. Hinter jeder Chiffre steckt ein Schicksal. Die Betroffenen - meist sind es Frauen - entscheiden selbst, ob und wann sie mit der Kiste zur Polizei gehen. Fünf Jahre lang haben sie Zeit dazu. Dann erst werden die Spuren vernichtet.

Es sind Gefühle von Scham und Angst, die sie nach einem sexuellen Übergriff zunächst davon abhalten, den Täter direkt anzuzeigen. Oftmals geht um Tatverdächtige aus dem eigenen vertrauten Umfeld, verrät die Statistik. Manchmal sind flüchtige Internetbekanntschaften darunter - ganz selten ist der Täter ein Fremder.

&bdquo;Wie konnte mir das passieren?“ Eine Frage, die vergewaltigten Frauen oft im Kopf herumschwirrt. Diese Erkenntnis hat Corinna Brase, Oberärztin der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Klinikum Lippe, in ihrer jahrelangen Praxis gewonnen.

Wenige Opfer melden sich Die Gynäkologin betreut seit neun Jahren die vom Land NRW unterstützte &bdquo;anzeigenunabhängige Spurensicherung“ am Klinikum Lippe. Damals sei das hiesige Kreisgebiet eines der wenigen in der Region gewesen, denen das Angebot noch fehlte, erinnert sich Brase. Dabei sei der Bedarf auch in Lippe groß, selbst wenn die Zahl der Patientinnen überschaubar sei. Das bedeute aber nicht, dass das Angebot nicht wichtig sei. Die Statistik sehe bundesweit ähnlich aus.

&bdquo;Die Frauen müssen irgendwo sein“, davon ist Oberärztin Corinna Brase überzeugt. Dass sich nur so wenige nach einem Sexualdelikt untersuchen ließen, liege unter anderem an der Dunkelziffer, die gerade bei sexualisierter Gewalt besonders hoch sei. Zum anderen geht die Gynäkologin davon aus, viele Frauen wüssten gar nicht, wie sie nach einem Übergriff überhaupt Beweise sichern lassen könnten. Die Situation sei eh schon überfordernd, das mache jeden darauf folgenden Schritt schwerer.

Zwar hängen auf den Krankenhausfluren in Detmold einige mit dem Logo versehende Plakate, die scheinen als Werbekampagne aber nicht genug zu sein. Das Kooperationsgremium &bdquo;Für Lippe gegen häusliche Gewalt“ hat daher einen Radiospot sowie einen Videoclip im Comic-Stil produziert, um für das Thema zu sensibilisieren. Auch Flyer weisen auf das Angebot hin. Es müssten mehr Frauen erreicht werden, um das Projekt und seine Möglichkeiten bekannter zu machen, sagt Corinna Brase.

Spuren nach sexuellem Übergriff sofort sichern Sofort ins Klinikum zu kommen, sei unerlässlich, sagt Brase. Für Vergewaltigte und Missbrauchte eine riesige Hürde, trotz Anonymität. Denn nichts wollen Betroffene in der Regel mehr, als nach der Tat sofort alle Spuren vom Täter von ihrem Körper zu entfernen.

Wer eine anzeigenunabhängige Spurensicherung wünscht, kann sich daher direkt in der Notaufnahme anmelden oder vorher im Klinikum anrufen. Das Krankenhaus informiere weder die Krankenkasse noch Familienangehörige oder die Polizei. Die Entscheidung, was mit den Spuren passiere, liege ganz allein bei den Betroffenen.

Die bei der Untersuchung sichergestellten Spuren kommen alle in eine Kiste: Dazu zählen DNA-Abstriche an relevanten Körperstellen bis hin zu sichergestellten Hautschuppen unter den Fingernägeln, wenn Opfer es schafften, sich gegen den Angreifer zu wehren. Das sei selten. &bdquo;Wir hören oft: Ich habe mich nicht gewehrt, ich hatte solche Angst, dass er mich umbringt.“

Sexuelle Übergriffe seien schon allein deshalb schwer nachzuweisen, weil es die unterschiedlichsten Formen sexualisierter Gewalt gebe. Nicht immer gehe ein Übergriff mit Penetration einher, daher könnten Täter nicht automatisch anhand von Sperma überführt werden. Je mehr Gewalt der Täter anwende, desto leichter sei es, Spuren zu sichern, sagt Brase. Sichtbar sei diese allerdings nicht immer.

Kiste wird fünf Jahre aufbewahrt Neben der ärztlichen Untersuchung können die Ärztinnen mittels Fragebogen den Tatablauf festhalten, wenn das gewünscht ist. Das Vorgehen laufe standardisiert ab. Auch Kleidungsstücke nimmt das Klinikum Lippe den betroffenen Frauen ab. Sie können genauso als Beweis dienen, sollte es zum Verfahren kommen. Die Kiste wird dann samt Chiffre an einem sicheren Ort aufbewahrt, um die Anonymität zu wahren, sagt Corinna Brase.

Nicht mal zehn Frauen lassen jährlich Spuren am Klinikum Lippe sichern. Im Jahr 2024 seien es gerade mal vier gewesen, davor das Jahr sechs. 2022 nahmen acht Frauen das Angebot wahr, Corinna Brase kennt die Statistik auswendig. In den umliegenden Krankenhäusern sieht es ähnlich aus.

Zum Vergleich: Im Klinikum Herford lassen sich jährlich im Durchschnitt etwa sechs bis acht Frauen nach einem Sexualdelikt untersuchen. Die Tendenz sei steigend, heißt es aus Herford. Das Klinikum Bielefeld beobachtet seit zehn Jahren stark schwankende Zahlen.

Im Jahr 2024 kamen fünf Frauen, das Jahr davor acht. Für das 2022 zählt die Bielefelder Statistik sogar 16 Betroffene. Da die Werte ein Auf und Ab abbilden, lässt sich daraus nach Angaben des Klinikum Bielefelds kein Rückgang ablesen.

Was mit den Spuren passiert, liegt dann in der Hand der Betroffenen. In Detmold hätten nicht viele Frauen ihre Kiste im Nachhinein wieder abgeholt, erklärt Oberärztin Corinna Brase. Das schmälere aber nicht die Relevanz des Projekts. Zumindest die Möglichkeit müsse für die Frauen gegeben sein. Die Untersuchung schließe dazu auch die medizinische Versorgung mit ein, damit beispielsweise sexuell übertragbare Krankheiten ausgeschlossen werden können.

Manchmal brauche es Zeit, bis sich Betroffene mit der Tat auseinandersetzen könnten. Das beobachten die Verantwortlichen am Klinikum Lippe auch immer wieder. Neulich erst habe eine Frau acht Jahre später angefragt, ob ihre Kiste noch existiere, sagt Corinna Brase. Die Box sei längst vernichtet gewesen, da das Klinikum Beweise nur fünf Jahre aufbewahren dürfe. Es gebe aber auch Fälle, in denen es zu Verurteilungen komme - selbst nach Jahren.

Statistik der Polizei zu Sexualdelikten Der Kriminalitätsstatistik der Kreispolizeibehörde Polizei Lippe nach haben Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Jahr 2023 fünf Prozent der gesamten Kriminalität in Lippe ausgemacht. Insgesamt sind 47 Vergewaltigungen beziehungsweise Fälle schwerer sexueller Nötigung angezeigt worden. 2022 waren es 65, 2021 waren es 38 Fälle. Der Opferschutz der Polizei geht davon aus, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegt. Die Zahlen für 2024 gibt die Kreispolizeibehörde Lippe erst am 12. März bekannt.

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