Lippische Polizei sensibilisiert junge Menschen mit hautnahen Unfallberichten

Kreis Lippe. Der Magen schnürt sich etwas zusammen, als die Fotos von hölzernen Kreuzen am Straßenrand wie eine Dia-Show über die Leinwand flackern. Im Hintergrund läuft sanfte Klaviermusik. Auf einigen Holzkreuzen stehen Namen geschrieben, vor anderen liegen Kuscheltiere oder Blumen im Gras. Eins haben alle gemeinsam: Jedes Bild zeigt eine Unfallstelle, an der Menschen im Kreis Lippe ums Leben gekommen sind. Etwa 320 Schülerinnen und Schüler starren in diesem Moment in der Detmolder Stadthalle still auf die Leinwand.

Manche vergraben die Hände im Ärmel ihres Pullovers, als wollten sie aufsteigende Tränen damit ganz schnell abschütteln. Andere streicheln ihrem Sitznachbarn tröstend mit der Hand über den Rücken oder senken behutsam den Blick. Die meisten sitzen einfach nur stumm da und hören zu. &bdquo;Es kommt bei dieser Reihe öfter vor, dass Jugendliche die Vorträge nicht aushalten und unter Tränen herausrennen“, sagt Yannick Thelaner von der Pressestelle der Kreispolizeibehörde Lippe, noch kurz bevor es losgeht. Für diesen Fall stehen im Flur erfahrene Kolleginnen und Kollegen der Polizei und Notfallseelsorge für Gespräche bereit. Jeder, der möchte, kann sein Herz ausschütten und das Gehörte verarbeiten.

Nur der Bruchteil einer Sekunde kann ein Leben auslöschen An diesem regnerischen Donnerstagmorgen bleibt es im Foyer weitestgehend ruhig, die Stimmung im Saal ist dennoch auffallend schwer. Es sind harte und persönliche Worte, die die Menschen da auf der Bühne am Mikrofon bei &bdquo;Crash Kurs NRW“ ans junge Publikum von lippischen Schulen richten. Die Kreispolizeibehörde Lippe will mit dem regelmäßig laufenden Verkehrsunfallpräventionsprogramm junge Menschen ab 16 Jahren in gerade einmal 90 Minuten dafür sensibilisieren, vorsichtig zu fahren. Die Gründe sind klar. &bdquo;Es kann jeden treffen“, sagt Moderatorin und Kriminalhauptkommissarin Tanja Menzel zwischen den Beiträgen. &bdquo;Wer denkt: Mir passiert schon nichts, kann das vergessen.“

Nur der Bruchteil einer Sekunde genüge, um ein Leben auszulöschen und die Welt von Familien, Freunden und Angehörigen nachhaltig zu verändern. 95 Prozent der schweren Unfälle seien menschengemacht - und viele vermeidbar. In der Stadthalle wird neben all dem offensichtlichen Schrecken auch ein Aspekt deutlich, der sonst vielleicht gerne mal untergeht: Selbst an erfahrenen Ersthelfern, Notfallseelsorgern und Einsatzkräften gehen solche tödlichen Unfälle nicht spurlos vorbei.

Zwei junge Menschen sterben im Autowrack Einer von ihnen ist Jens Hollmann. Er ist langjähriger Erst-Helfer-Trainer und ehrenamtlich oft als Notfallseelsorger im Einsatz. Ausgerechnet einen Unfall, an dem er in einer lauen Sommernacht ganz zufällig als Privatperson vorbeigekommen sei, habe er lange nicht abschütteln können. Zwei junge Menschen sterben damals, als ein Auto nachts in Lippe von der Straße abkommt und frontal gegen einen Baum prallt. &bdquo;Es hat mich sehr lange beschäftigt, dass ich trotz meiner Erfahrung nichts tun konnte“, sagt Jens Hollmann. &bdquo;Für diese beiden hat es einfach nicht gereicht.“

In der besagten Unfallnacht am 11. Juli hatte sich eine junge Frau noch selbstständig von der Rückbank befreien können und nicht weit von der Unfallstelle apathisch im Gras gesessen. Sie habe Fahrer und Beifahrer im Auto nicht mal gekannt, erfährt Hollmann später. &bdquo;Die beiden wollten sie wohl ganz zufällig von einer Party mit zurück nach Detmold bringen, damit sie nicht auf ihr Taxi warten muss.“ Der junge Fahrer soll Alkohol getrunken und keinen Führerschein besessen haben, das ermittelt die Polizei anschließend. Erst ist zumindest der Fahrer noch wach und ansprechbar, ein gutes Zeichen, sagt Hollmann, dann kommt alles anders. Minuten später sind beide Insassen tot. &bdquo;Er war gerade einmal 17 Jahre alt, als er in den Trümmern seines Autos an seinem eigenen Blut erstickt ist“, sagt Jens Hollmann.

&bdquo;Stress- und Notfallsituationen kann man nicht einfach hinter sich lassen“ Seine Worte sind ruhig und dennoch gewaltig. Zwei Dinge sind dem erfahrenen Ersthelfer wichtig. Er will sie den Schülerinnen und Schülern unbedingt mitgeben. &bdquo;Steigt nicht einfach zu irgendwem ins Auto“, sagt er. Und für Menschen, die Zeuge eines schweren Unfalls werden, gilt folgender Appell. &bdquo;Glaubt nicht, dass man solche Stress- und Notfallsituationen einfach hinter sich lassen kann.“ Wer eine Extremsituation wie diese erlebe, der solle sich unbedingt jemandem aus seinem engen Umfeld anvertrauen. &bdquo;Genau dafür sind Freunde da.“

Authentisch gibt jeder Bericht an diesem Vormittag Einblicke in die Gefühlswelten von Menschen, die tagtäglich Schlimmes erleben und doch nicht abgestumpft wirken.

Polizeihauptkommissar a.D. Frank Hoffmann kann das eindrucksvoll greifbar machen. Er berichtet von einem Erlebnis, das ihn geprägt habe, einem auf den ersten Blick unscheinbar wirkenden Unfall auf der schneebedeckten Paderborner Straße im Detmolder Ortsteil Heiligenkrichen. Auch hier kommt ein junger Mann ums Leben, als er mit leicht überhöhter Geschwindigkeit von der Fahrbahn abkommt, in den Gegenverkehr gerät und mit einem Lkw zusammenprallt. Als der Polizist ankommt, steht eine Menschentraube wie unbeteiligt drumherum. Jede Wiederbelebungsmaßnahme kommt zu spät.

&bdquo;Man kann das Erlebte nicht einfach abschütteln, die Emotionen leben weiter“, sagt der 63-Jährige. Auch er habe dem jungen Mann nicht mehr helfen können, der sein ganzes Leben noch vor sich gehabt hätte. Seine eigenen Söhne seien damals 19 und 23 Jahre alt gewesen. Was wäre, wenn ihnen so etwas passiert? Ein Gedanke, der den erfahrenen Polizisten lange nicht loslässt. Beim Gespräch mit den hinterbliebenen Eltern fließen viele Tränen. Am Ende fühlt er sich als Teil ihrer Familie.

Angehörigen, die Nachricht von tödlichen Unfällen zu vermitteln, gehört auch zu den Aufgaben der ehrenamtlichen Notfallseelsorgerin Friederike Müller. Die 44-Jährige hat selbst drei Kinder und einen Unfalleinsatz in Blomberg betreut, bei dem ein 18-jähriger Kradfahrer gestorben ist. Am liebsten würde sie diesen Abend im November 2020 vergessen, doch genau dieser Einsatz bringt sie zu dem Projekt.

Seine Freunde stehen am Unfallabend noch am Straßenrand, während Rettungskräfte verzweifelt um sein Leben kämpfen. &bdquo;Sagen Sie mir, wie ich ohne ihn weiterleben soll?“, soll ein Freund des Opfers Friederike Müller gefragt haben. &bdquo;Vor einer Stunde hatte er noch den Nervenkitzel gesucht, jetzt lag er schluchzend wie ein Kind in meinen Armen.“ Nur wenige Sekunden können alles verändern. Die Clique wollte auf der kurvigen Straße ein Abenteuer erleben - am Ende kehrt einer von ihnen nicht mehr nach Hause zurück.

Sichtlich beeindruckt, verlassen Leoni (17) und Lisa (17) am Ende der emotionalen Vortragsreihe den Saal. &bdquo;Ich fand es schon krass“, sagt Leoni. &bdquo;Plötzlich wird einem klar, wie schnell so etwas passieren kann. Ich glaube schon, dass es mein Denken nachträglich beeinflussen wird.“ Und genau damit hätte das Programm etwas bewirkt.

Der nächste &bdquo;Crash Kurs NRW“ ist für den 29. Februar 2024 erneut in der Stadthalle Detmold geplant.

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