Sexuelle Gewalt: Lipperin fühlt sich von Justiz im Stich gelassen

Kreis Lippe. Mehrfach verschiebt sich der Termin, bis es zum Prozess kommt. Dann sitzt sie da, will aussagen, was ihr Ex-Ehemann ihr angetan haben soll. Zweieinhalb Jahre ist es her, dass sie Anzeige gestellt hat. Die vielen Gewalttaten sind längst zu einem Brei in ihrem Kopf verrührt. Dort im Gerichtssaal werden ihre Hände schwitzig, die Daten und konkreten Situationen verschwimmen. Panik steigt auf, der Puls rast. Trotz mehrfachen Pausen kann sie ihre Aussage nicht zu Ende bringen. Es kommt zum Freispruch.

Für Betroffene von sexueller Gewalt ist genau diese Situation wohl das Schlimmste, was ihnen passieren kann, sagt Rechtsanwältin Anke Reese aus Detmold. Die Opferanwältin betreut etliche Frauen und Kinder, die vergewaltigt, sexuell missbraucht oder geschlagen wurden. Viele Taten passieren im engsten familiären Umfeld, unter den Erwachsenen sind die Opfer häufig weiblich. Besonders schwierig: In den meisten Fällen steht Aussage gegen Aussage. Ein Gerichtsverfahren kann für Betroffene die Hölle bedeuten. &bdquo;Von einem Freispruch erholen sich Opfer in der Regel nie“, sagt Reese.

Betroffene hadert mit Freispruch

Eine ihrer Mandantinnen sitzt ein paar Wochen zuvor in der Redaktion. Dass ihr Verfahren mit einem Freispruch geendet hat, nagt an der Lipperin. Mindestens genauso schlimm fühlt es sich an, so beschreibt sie es beim Gespräch, wie die Presse über ihren Fall berichtet hat. &bdquo;Es ist der Eindruck entstanden, als hätte ich mir das alles nur ausgedacht.“

Vor Gericht habe sie sich durchaus ernstgenommen gefühlt, beschreibt die Mutter, ihre Aussage habe aber letztendlich nicht gereicht. Das Urteil kann sie nicht ändern. Vielmehr geht es ihr darum ,zu erklären, wie verloren sich Betroffene in diesem System fühlen können. &bdquo;Die Justiz ist nicht für Opfer von Gewalt gemacht“, sagt die Frau. Sie selbst musste ihre Aussage in der Hauptverhandlung abbrechen.

Einer der vielen Gründe für den Freispruch, den das Landgericht Detmold neben der wenig konkreten Angaben zum Vorwurf nennt, betrifft den Zeitpunkt der eigentlichen Anzeige, die das Verfahren angestoßen hat. &bdquo;Sie hat nicht plausibel darlegen können, weshalb sie ihren Ex-Ehemann so spät angezeigt hat“, erklärt Landgerichtssprecher Dr. Wolfram Wormuth.

Etwa drei Jahre lagen zwischen Trennung und Anzeige. Am Authentischen sei es, einen sexuellen Übergriff unmittelbar zu melden, sagt Wormuth. Erinnerungen verblassten, in einem Strafverfahren komme es später aber auf jedes Wort und jedes Detail an. Dass die Betroffene bereits vor Jahren nachweislich bei der Beratungsstelle Alraune Hilfe gesucht hat, spielt im Prozess keine Rolle. Da aber selbst das Grundgerüst der Aussage gewackelt habe, kommt ein aussagepsychologisches Gutachten am Ende nicht einmal für die Staatsanwältin infrage.

Der Faktor Zeit beeinflusst Verfahren, die sexuelle Gewalt betreffen, auf ganz verschiedenen Ebenen. Oft ziehen sich allein die Ermittlungen über Jahre hin, weil die Beschuldigten selten in U-Haft sitzen. Damit fehlt die Dringlichkeit, wie bei Haftsachen, welche fristgerecht abgearbeitet werden müssen.

Lange Ermittlungen sind für Betroffene eine Qual

Für Opfer eine Qual, weiß Rechtsanwältin Anke Reese aus jahrelanger Praxis. Vor allem dann, wenn sie sich endlich durchgerungen haben, überhaupt ein Verfahren loszutreten. &bdquo;Viele Frauen haben große Probleme damit, ihren Lebenspartner anzuzeigen“, sagt Reese. Gerade wenn Kinder im Spiel seien, erhöhe sich die Schmerzgrenze bei Betroffenen ins grenzenlose. Nicht selten hänge das damit zusammen, dass ein schlechter Ehemann nicht automatisch ein schlechter Vater sei, meint Reese.

&bdquo;Viele erleben etwas ganz Schlimmes und denken, weil sie verheiratet sind: morgen ist ein neuer Tag.“ Nicht grundlos gäbe es daher für Betroffene sexueller Gewalt beispielsweise im Klinikum Lippe die Möglichkeit, Spuren einer Vergewaltigung anzeigenunabhängig zu sichern. Nur wenige nehmen das in Anspruch. 2024 waren es in Lippe acht, im Jahr davor sechs.

Oft spiele auch Scham eine große Rolle, dass mutmaßliche Täter nicht sofort – oder nie – angezeigt werden. In den meisten Fällen, die später doch vor Gericht verhandelt werden, stehen sich letztendlich die Version des mutmaßlichen Opfers und die des vermeintlichen Täters gegenüber. Dass die Anforderungen an eine Aussage für eine mögliche Verurteilung hoch sind, kann die langjährige Opferanwältin aus Sicht der Angeklagten gut nachvollziehen. Die Justiz müsse sicher sein, dass sich die vorgeworfenen Taten genau so abgespielt haben. Dazu sei es nötig, einen konkreten Sachverhalt herauszuarbeiten: Der zeitliche Ablauf, die Tatdetails und die Konstanz der Aussage müssten stimmen. Andernfalls würde das Rechtssystem in sich zusammenbrechen, heißt es vom Gericht.

Masse an Übergriffen lässt sich schwer konkretiseren

Eine große Hürde für Opfer stelle es aber dar, sagt Rechtsanwältin Anke Reese, wenn die Masse der Übergriffe den Alltag bestimme. Dann falle es besonders schwer, einzelne Taten herauszuarbeiten, an die sich das Gericht aber halten müsse. &bdquo;Wenn Gewalt und sexuelle Übergriffe sich durch das alltägliche Leben ziehen, ist es am Ende kein Wunder, wenn das Opfer es nicht mehr chronologisch auf die Kette kriegt“, sagt Reese. Sie habe Kinder vertreten, die seit dem dritten Lebensjahr täglich in der Familie sexuelle Gewalt erlebt hätten. &bdquo;Irgendwann gehört der Missbrauch dazu, wie morgens aufzustehen.“

Da sich ein Freispruch für Opfer wie ein Schlag ins Gesicht anfühle, ist es aus Sicht der Anwältin besser, wenn die Staatsanwaltschaft manche Vorwürfe gar nicht erst anklagen würde. &bdquo;Wenn zu erwarten ist, dass die Feststellungen nicht reichen, ist es mir tausendmal lieber, dass das Verfahren eingestellt wird“, gibt Reese zu. &bdquo;Ich möchte meinen Mandanten ersparen, durch diese Mühlen gedreht zu werden.“Außerdem hätten Betroffene dann die Möglichkeit, das Verfahren neu anzustrengen, wenn es beispielsweise weitere Erkenntnisse oder gar Beweise zu dem Fall gebe.

Kein Freispruch erster Klasse

Wer freigesprochen wird, kann dagegen für denselben Vorwurf nicht noch einmal vor Gericht gestellt werden. Viele Betroffene fühlten sich dann machtloser als vorher. Nicht bei jedem Freispruch handele es sich dazu automatisch um einen erster Klasse, also einen aus Überzeugung, sagt Reese, selbst wenn Angeklagte den Sitzungssaal mit erhobenen Hauptes verließen. Oft mache das Gericht auch von &bdquo;in dubio pro reo“, also im Zweifel für den Angeklagten, Gebrauch. Dass Frauen mit mutwilligen Falschaussagen ihre ehemaligen Partner oder andere Männer belas teten, käme nur sehr selten vor.

Aber was muss sich ändern, um das System zu verbessern? &bdquo;Es gibt kein Allheilmittel“, sagt Reese. Seitens der Gerichte würde sich die Anwältin in manchen Fällen einen noch empathischeren Umgang mit Opfern wünschen, sagt sie.

&bdquo;Mir fehlt ein Stück Menschlichkeit“, sagt die Frau, die weder körperlich noch psychisch in der Lage war, vor Gericht auszusagen. &bdquo;Und Verständnis für Menschen, die traumatisiert sind.“ Das Verfahren habe sie sehr zurückgeworfen, was die lang erkämpfte Stabilität der eigenen Psyche angehe. Dennoch wolle sie sich nicht aufgeben. Genau damit möchte sie anderen Betroffenen Mut machen. &bdquo;Ich habe mich zurückgekämpft. Das gelingt mir wieder.“

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