Kreis Lippe. Nicht mal ein Jahr liegen zwischen den sexuellen Übergriffen auf zwei geistig behinderte Frauen hier im Kreis Lippe. Die beiden Fälle haben nichts miteinander zu tun - und sind dennoch erschreckend ähnlich. In beiden Situationen vergingen sich Busfahrer an ausgerechnet den Frauen, die sie hätten beschützen und sicher zur jeweiligen Arbeitsstätte in Behindertenwerkstätten in Lemgo fahren sollen. Stattdessen kam es bei einer Fahrt für Eben-Ezer im Sommer 2023 zu sexuellen Übergriffen auf dem Beifahrersitz - im Frühjahr 2024 wurde ein weiblicher Fahrgast auf der Route für die Lebenshilfe Lemgo dreimal vergewaltigt. In beiden Fällen sind die Opfer behinderte Frauen gewesen, die sich nicht gegen ihre Peiniger hatten wehren können. Beide Täter waren geständig, sind inzwischen rechtskräftig verurteilt. Aber was kann man tun, um solche Taten künftig zu verhindern? Der Mensch als Schwachstelle „Das System an sich hat keine Schwachstelle“, sagt der betroffene Busunternehmer, dessen Ex-Fahrer gerade erst in Detmold zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt wurde. „Der Mensch ist die Schwachstelle.“ Sein Fazit ist ernüchternd, trifft aber offenbar einen Kern. „Das, was dort passiert ist, ist etwas, was wir uns nicht wünschen, aber es kommt immer wieder vor.“ Nicht nur in Lippe, sondern überall. „Man kann es nicht verhindern.“ Dabei sind die Kriterien, um Personen von A nach B befördern zu dürfen, äußerst streng. „Das Personal wird immer überprüft“, sagt der Firmeninhaber, für den das der erste Fall auf seiner Linie ist. Wenn Bewerberinnen und Bewerber beim Kreis Lippe einen Personenbeförderungsschein beantragen würden, werfe der Kreis zusätzlich einen Blick aufs Führungszeugnis, was dem Busunternehmer selbst aus Datenschutzgründen nicht gestattet sei. Selbst an dieser Stelle sei schon Personal ausgesiebt worden, erklärt der Lipper. Alle zwei Jahre werde der Stand überprüft. „Wenn etwas vorgefallen ist, fliegt man sofort raus.“ Aber nicht immer verrät ein Führungszeugnis oder Vorstrafenregister allein, ob jemand zu einer potenziellen Gefahr werden könnte. „Man kann den Menschen nur vor den Kopf gucken, das ist das Problem.“ In dem aktuellen Fall, der gerade vor dem Landgericht Detmold verhandelt wurde, war der Täter (heute 77) eine völlig unauffällige Person, die Jahrzehnte zivil für die Bundeswehr gearbeitet hatte. Verheiratet, vier Kinder, kein Eintrag ins Strafregister, im Kontakt „extrem kollegial, freundlich und aufgeschlossen“, beschreibt der Ex-Chef. Wenn solche Menschen zu Tätern würden, sei man machtlos, meint der Unternehmer. Antrag auf Begleitperson abgelehnt Das eingesetzte Fahrpersonal sei grundsätzlich allein unterwegs, nur wenn es medizinische Gründe rechtfertigten, genehmigte der zuständige Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) für bestimmte Personen eine Begleitperson. Dabei gehe es am Ende immer ums Geld, meint der Busunternehmer. Wie streng das geregelt ist, bestätigt auch Rudolph Langemann, Vorsitzender der Lebenshilfe. „Ein Grund kann zum Beispiel sein, wenn jemand Epilepsie hat.“ Daneben wäge der LWL immer ab, ob bei Fahrgästen eine Fremd- oder Eigengefährdung vorliegt. Trotz der massiven Übergriffe im Sommer 2024 und einem darauffolgenden Antrag soll der LWL für die vergewaltigte und traumatisierte Salzuflerin eine Begleitperson abgelehnt haben. Ihre Schwester hatte die Betroffene vor Gericht als äußerst vertrauensvoll und kindlich beschrieben. „Man sagt ein nettes Wort und schon bist du ihr bester Freund.“ Gerade dieses Urvertrauen nutzte der Täter aus. Sie habe ihre Schwester noch nie so viel weinen sehen wie nach der Tat, erklärte die Angehörige im Sitzungssaal. Zu dem konkreten Fall will sich der LWL nicht äußern, er verweist auf den Datenschutz. Allgemein heißt es: „Die Bewilligung von Begleitpersonen im Fahrdienst für Menschen mit Behinderung ist nur im Ausnahmefall möglich, sofern ein individueller Bedarf von Leistungsberechtigten besteht.“ Sexuelle Übergriffe mit dem Handy gefilmt Bei dem Vorfall im Jahr 2023 war es sogar eine Begleitperson, die den Busfahrer am Ende überführte. Der Senior zwang damals seine autistische Beifahrerin an einem Seitenstreifen dazu, sexuelle Handlungen an ihm vorzunehmen. Der Bus war zu diesem Zeitpunkt voll besetzt. Dass hinten unter den behinderten Fahrgästen zufällig eine Begleitperson saß und den Übergriff als Beweis filmte, bekam der Täter damals nicht mit, so schilderte er es später vor Gericht. Die betroffene Autistin, die wegen der Schwere der neurologischen Entwicklungsstörung ihre eigenen Bedürfnisse laut ihrer Anwältin selbst kaum ausdrücken kann, hätte ihn nicht anzeigen können. Trotzdem: Als präventive Schutzmaßnahme vor Übergriffen sind Begleitpersonen offenbar nicht gedacht. In der Regel könnten die eingesetzten Fahrdienste durch entsprechende Schulungen und Weiterbildungen sicherstellen, dass die „Beförderung ordnungsgemäß und sicher erfolgt“, schreibt der LWL. Beim Auswahlverfahren dieser Fahrdienste achtet der LWL eigenen Angaben nach genau darauf, inwieweit Unternehmen Schulungen im Umgang mit Behinderten durchführen. Ausschlaggebend sei für die Firmenauswahl auch eine „unvoreingenommene und positive Grundeinstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen“, heißt es. Dass es am Ende auch um das günstigste Angebot geht, wie Rudolph Langemann von der Lebenshilfe einwirft, erwähnt der LWL nicht. Beide Täter weit über 70 Jahre alt Beim Blick auf die beiden lippischen Fälle fällt das hohe Alter der verurteilten Fahrer auf. Beide Männer sind weit über 70 Jahre alt gewesen, als es zu den sexuellen Übergriffen kam. Das ist kein außergewöhnlicher Zufall, beide passen damit in die gängige Altersstruktur der eingesetzten Fahrer, heißt es. Rentner, die sich etwas dazu verdienen wollten, oder Minijobber gehörten „zum typischen Fahrer-Klientel bei den Transportfahrten“, sagt der Busunternehmer. Morgens ginge es hin zur Werkstatt und nachmittags zurück. Das seien nur wenige Stunden. „Davon können wir keine Mitarbeiter führen, die eine Familie ernähren müssen.“ Sein Unternehmen sei in Ostwestfalen-Lippe das einzige, das über GPS überprüfen könne, was die Autos genau tun, sagt der Firmeninhaber. Das könne Übergriffe zwar nicht verhindern, aber immerhin dabei helfen, entsprechende Hinweise von Behörden zu überprüfen. Dass ein Auto mal acht bis zehn Minuten außer der Reihe stehen bleibe, mache allein nicht stutzig. Schließlich sei es Standard, dass sich der Fahrer auch mal ein Brötchen hole. Vergangenen Sommer nutzte ein Fahrer die außerplanmäßigen Halte dazu, zum Sexualstraftäter zu werden. Inzwischen wird die Betroffene nur noch von weiblichen Fahrern gefahren. Das Gefühl der Machtlosigkeit bleibt. Wie hoch die Dunkelziffer an sexuellen Übergriffen an behinderten Menschen auf solchen Fahrten ist, bleibt nebulös. Belastbare Zahlen dazu gibt es nicht. Studie zu Gewalt an behinderten Frauen Laut einer Studie zur „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland“ (2014) sind Frauen mit Behinderungen etwa zwei- bis dreimal häufiger von sexueller Gewalt betroffen als Frauen im Bundesdurchschnitt. Das betrifft erzwungene sexuelle Handlungen im Erwachsenenalter genauso wie sexuelle Übergriffe in Kindheit und Jugend. Beauftragt wurde die von 2009 bis 2011 durchgeführte Studie durch das Bundesministerium für Bildung, Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Laut dem Ministerium lieferte die Studie erstmalig repräsentative Daten über Diskriminierungen und Gewalterfahrungen von Frauen mit Behinderungen. Befragt wurden 402 Frauen im Alter zwischen 16 und 65 Jahren. Die Studie thematisiert ebenfalls, dass Frauen mit geistigen Behinderungen vor dem besonderen Problem standen, „dass sie, wenn ihnen Gewalt angetan worden war, nicht die Möglichkeit hatten, selbstständig nach außen zu gehen und Hilfe zu suchen“.