Bad Salzuflen. Wäre sein älterer Bruder Stefan 1955 nicht bei einem Motorradunfall mit 23 Jahren ums Leben gekommen, wer weiß - vielleicht wäre das Leben von Siegfried Geyer (83) ganz anders verlaufen. So aber trat der 15-Jährige in Stefans Fußstapfen und wurde Metzger, da gab es keine Diskussion. Die Familie hatte sich nach der Flucht aus Jugoslawien nahe Geisingen (Landkreis Tuttlingen/Baden-Württemberg) niedergelassen, doch für Siegfried Geyer war dies nicht die letzte Station. Familiengeschichte erforscht Die Geschichte seiner Vorfahren hat Geyer, der seit langer Zeit in Bad Salzuflen lebt, viele Jahre lang erforscht: Vom Elsass zog es die Familie Geyer zunächst in die Nähe von Bingen am Rhein, Ende des 18. Jahrhunderts wanderte sie nach Österreich-Ungarn aus. „Wir sind Donauschwaben. Der Begriff rührt da her, dass die Auswanderer in Ulm auf Schiffen Donau abwärts gebracht wurden.“ Doch die Reise war für die Geyers noch nicht zu Ende. Gut 100 Jahre später, im Jahre 1882, zogen sie nach Surcin bei Belgrad im damaligen Jugoslawien: „Dort war der Boden zwischen Donau und Save noch günstig und sehr fruchtbar“, weiß Siegfried Geyer. Sein Großvater Filip Geyer war ein fleißiger Mann. In Surcin baute er eine kleine Metzgerei, Landwirtschaft und Holzhandlung auf - auch der Vater musste als Ältester von drei Geschwistern ins Geschäft einsteigen. Im September 1936 zog es Siegfrieds Vater, der ebenfalls Filip hieß, nach Beschania, wo er ein Grundstück kaufte und sich mit einer eigenen Holzhandlung selbstständig machte. Dass die Familie das alles 1944/45 aufgeben musste, erlebte der Großvater nicht mehr, starb er doch bereits 1940 nach einer Operation. Die Niederlage von Nazideutschland blieb für die deutschstämmigen Siedler nahe Belgrad nicht ohne Folgen: „Deutsche wurden für ,vogelfrei’ erklärt, wir mussten flüchten und alles zurücklassen.“ Siegfried Geyer selbst war bei der Flucht, die die Familie im Oktober 1944 zunächst nach Oberösterreich führte, erst zwei Jahre alt, der jüngste von vier Geschwistern. Bereits 1943 sei es für Deutsche in Jugoslawien durch die Partisanen immer gefährlicher geworden, berichtet der Salzufler - besonders für seinen ältesten Bruder Otto (geboren 1927): „Er war Führer der Pimpfe und später der Jugend in Beschania.“ Otto sei aber von der Nazipropaganda auch so verblendet gewesen, dass er sich als 17-Jähriger 1945 noch freiwillig zum Militär gemeldet habe: „Er fiel sechs Wochen vor Kriegsende, völlig sinnlos, in Pommern“, erzählt Siegfried Geyer. „Unser Deutsch verstand niemand“ Vor der Flucht seien alle wichtigen Habseligkeiten in Holzkisten verpackt und auf einen Pferdewagen geladen worden, dann ging es Richtung Westen. Unterschlupf fand die Familie zunächst bei einem Bauern in dem kleinen Dorf Brauchsdorf bei Taufkirchen. In der neuen Heimat auf Zeit hätten die Neuankömmlinge einen Flüchtlingsausweis bei sich tragen müssen - sich weit zu entfernen, sei untersagt gewesen: „Wir waren Fremde, auch wenn wir Deutsch gesprochen haben - ein Deutsch, das dort niemand verstand.“ Zusammenrücken war die Devise auf dem Bauernhof: „Ich schlief mit meinen Eltern im Aufenthaltsraum, mein Bruder beim Knecht, meine Schwester bei der Magd.“ Vier Jahre lang habe er mit seiner Familie dort gelebt - der Vater verdingte sich als Hilfsarbeiter im Sägewerk: „Er war zwar in Surcin Chef gewesen, hatte aber nichts gelernt und nichts vorzuweisen.“ Und auch wenn Österreich mit deutschstämmigen Flüchtlingen aus Ungarn und Jugoslawien überfüllt gewesen sei, so habe es seine Familie bei dem Bauern gut gehabt: „Mich hat die Bäuerin besonders gern gemocht. Ich weiß noch, wie sie mich immer auf den Schoß genommen hat und mir zu essen gab.“ Dennoch entschieden sich die Geyers zur Ausreise nach Deutschland und landeten 1949 in der Flüchtlingsunterkunft in Donaueschingen: „1785 Donau abwärts mit nichts, 1949 an die Donauquelle zurück mit nichts“, beschreibt Geyer seine Familiengeschichte in einem Satz. Metzgerutensilien des tödlich verunglückten Bruders Doch auch in dem späteren Zuhause in Geisingen fasst die Familie wieder Fuß. 1955 verunglückt Siegfrieds Bruder Stefan tödlich - ein Schock. Er hatte wie die Väter Metzger gelernt, und alle seine Arbeitssachen waren noch da: Kleidung, Messer, Gummistiefel. Was hätte da näher gelegen, als die an den jüngeren Bruder weiterzugeben? „Ich war handwerklich nicht besonders geschickt, hatte aber schon öfter Hausschlachtungen erlebt.“ Das war wohl Eignung genug: Siegfried Geyer ging nach der achten Klasse in die Metzger-Lehre. Als er die Ausbildung mit 18 beendet, will er hinaus in die Welt. Mithilfe von Stellenanzeigen in einer Fachzeitschrift findet er einen Job in Düsseldorf, wo er seine Frau Elisabeth, eine Fleischereifachverkäuferin, kennenlernt. Die beiden heiraten, machen sich erst in Düsseldorf selbstständig, später in Bad Salzuflen, wo sie Anfang der 70er Jahre sesshaft werden. Siegfried Geyer führt nicht nur mehrere Geschäfte, er ist auch kommunalpolitisch aktiv. 1987 entscheidet das Ehepaar, den Betrieb nach 31 Jahren Selbstständigkeit aufzugeben. In der alten Heimat nahe Belgrad ist Siegfried Geyer noch zweimal gewesen: 1960, als in seinem Elternhaus ein Tierarzt lebte, und vor acht Jahren: „Da war das Grundstück ziemlich runtergekommen, und ich durfte nicht ins Haus.“ Was ihn jedoch besonders erfreute: Die Familiengruft auf dem Friedhof sei als einzige erhalten geblieben.