Kreis Lippe. Ein strahlendes Jubiläum: Vor 25 Jahren flog der Reaktor im Block vier des Kernkraftwerks Tschernobyl in die Luft. Die Nachricht brauchte Tage, um in Lippe anzukommen. Wie die atomare Wolke...
Anfang Mai 1986: Der damalige Chefarzt im Lemgoer Krankenhaus, Dr. Erich-Otto Alswede, leiht sich von seinem Arbeitgeber einen Geigerzähler aus. Ihn beunruhigen die immer bedrohlicher werdenden Nachrichten. Direkt über dem Sandkasten seiner damals noch kleinen Kinder schlägt das Gerät aus. "Nicht bis in einen stark gesundheitsgefährdenden Bereich, aber doch deutlich", erinnert sich Alswede.
Die Konsequenz: Seine Kinder dürfen tagelang nicht draußen spielen. "Ich weiß noch, wie wir aus dem Haus heraus unsere Katze im Gras herumtollen sahen und dachten: Kein Lebewesen hat ein Sinnesorgan, das vor der gefährlichen radioaktiven Strahlung warnt."
Während das NRW-Innenministerium am 2. Mai 1986, heute vor 25 Jahren, noch von "keiner Gefahr" für die Bevölkerung spricht, sieht es zwei Tage später anders aus. Düsseldorf warnt plötzlich dringend davor, Kinder in Sandkästen oder auf Wiesen spielen zu lassen. Dazu soll auf den Verzehr von Spinat, Salat und Frischmilch verzichtet werden. "Die Gemüsebauern mussten Teile ihrer Ernte wegschmeißen", erinnert sich Heinrich Kemper, Vorsitzender des Landwirtschaftlichen Hauptvereins in Lippe. Die übrige Landwirtschaft wurde verschont: "Bis zur Ernte im Herbst hatte sich alles herausgewaschen."
Lippe hatte vor 25 Jahren noch relatives Glück. Die Wolke aus Tschernobyl kam zwar auch hier an, aber während der besonders kritischen Tage war es nahezu trocken. Der "Fall-Out" in Lippe fiel glimpflich aus. Weniger Glück hatte der Raum östlich von Osnabrück und besonders der Süden der Republik. Wegen stärkerer Regenfälle Anfang Mai 1986 lagert im Bayerischen Wald auch heute noch Cäsium 137 in großen Mengen im Boden.
Das Radionuklid hat eine Halbwertzeit von 30 Jahren. "Das heißt, es ist erst annähernd zur Hälfte zerfallen", sagt Anja Schulte-Lurz vom Bundesamt für Strahlenschutz (Salzgitter). Das Wild und besonders die Pilze aus einigen süddeutschen Gegenden sind immer noch belastet. Vor dessen Verzehr warnen die Strahlenschützer auch heute - 25 Jahre nach Tschernobyl.
Übrigens: Noch am 28. April 1986, zwei Tage nach der Katastrophe in Tschernobyl, beherrschten Themen wie die neunte Meisterschaft des FC Bayern mit Trainer Udo Lattek oder der Tod von Lou van Burg die deutschen Nachrichten. Einen Tag später dann der Schock: "Schweres Unglück in sowjetischem Kernkraftwerk", heißt es auf der LZ-Titelseite. Der Ort Tschernobyl ist wegen der äußerst schleppenden Informationspolitik der Sowjets noch ein Gerücht, aber Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber (CDU) weiß bereits: "Wegen der Windverhältnisse sehe ich nicht, dass die Atomwolke auf die BRD zutreibt." Wenige Tage später stellt sich heraus: Der Herr mit der Fliege hat sich schwer geirrt...