Bad Salzuflen. Ernst-Wilhelm an Huef weiß viel über Kinderlähmung. Über das Krankheitsbild, die Therapien, die Schmerzen. Der Salzufler lebt seit 50 Jahren mit Polio und hat nach eigenen Angaben Glück, dass er lebt.
Der Satz "Mein ziemlich guter Freund, der Rolli" kommt ihm ganz selbstverständlich über die Lippen. Zweifel an der Glaubwürdigkeit versteht er, weist sie aber zurück. Nach einem 50-jährigen Leben mit Kinderlähmung weiß Ernst-Wilhelm an Huef, was er sagt: Über Medikamente und Physiotherapie, über die Belastbarkeit seines Körpers und eben über seinen Freund, den Rolli.
1959 erkrankt an Huef als Sechsjähriger an einer Mandelentzündung, die sich zur Knochenmarks-Eiterung entwickelt. Es folgen elf Monate Krankenhaus. Vor der Polio-Welle 1961 kann er sich nicht schützen: Sein Körper ist zu geschwächt, eine Lebendviren-Impfung unmöglich. An Huef erwischt es. "Ich weiß es bis heute, ich saß bei den Hausaufgaben und bekam akutes Fieber mit extremen Kopfschmerzen." Der ganze Körper ist gelähmt. Der Verdacht auf Polio bestätigt sich in Bethel, wo der Junge monatelang behandelt wird.
"Eiserne Lunge", Rückenmarkspunktionen und anderes helfen, dass die Lähmungen weitgehend schwinden - mit Ausnahme derjenigen im rechten Bein. Zurück bleiben ein starker Muskelschwund und eine Beinverkürzung von elf Zentimetern. Viele Operationen bewirken, dass das Bein heute nur noch drei Zentimeter kürzer ist.
Sportlehrer kann an Huef nicht werden. Aber die zwischen dem 9. und 20. Lebensjahr insgesamt mehr als zwei Jahre im Krankenhaus (mit abenteuerlichen Besuchszeiten von zwei Stunden in der Woche) und die überwiegend quälende, tägliche Krankengymnastik machen ihn nicht mürbe.
An Huef studiert und schlägt eine Karriere im öffentlichen Dienst ein, wird Leiter des Arbeitsamtes Bad Salzuflen, wo er heute in der Studienberatung arbeitet. Der Sport hilft ihm ungemein. 31 Mal das Goldene Sportabzeichen geschafft zu haben, spricht für sich.
Die Jahre 2006/2007 stellen die eine Zäsur dar: "Wie es mir heute geht, ist entscheidend. Ich vergleiche mich nicht mit der Zeit davor, wo es besser ging." Davor: Das heißt vor der zweiten Akutphase, der Erkrankung am Postpolio-Syndrom. PPS sorgt dafür, dass Kraft und Ausdauer wegen täglicher, schubweiser Nichtversorgung oder Erschöpfung der Muskulatur rapide zurückgehen. Klinikaufenthalte folgen, die Diagnose wird bestätigt.
Dass an Huef, damals schon 53 Jahre alt, noch an PPS erkrankt, ist ungewöhnlich, er führt die sehr späte Polio-Folgeerkrankung auf sein sportliches und gesundes Leben zurück.
Ernst-Wilhelm an Huef arbeitet jetzt nur noch halbtags. Er weiß, wann die Schmerzen zu stark werden. Er muss regelmäßig zur Ruhe kommen, seinen Tag minutiös planen. Diese "gravierende Reduktion auf sich selbst", fällt jemandem besonders schwer, der sich etwa im "Heim der Jugend" und als Bezirksschülersprecher engagierte. Er muss sie akzeptieren lernen, ebenso wie die Notwendigkeit, eine Unterarmgehstütze zu benutzen. Und eben den Rollstuhl.
"Nicht mehr Radfahren zu können, geht mir unheimlich ab" gesteht an Huef - um einen Moment später ein Foto zu zeigen, das ihn beim Bogenschießen zeigt. In gerader Haltung, im Rolli sitzend, die Sehne gespannt, den rechten Arm zurückgezogen, jeden Moment schnellt der Pfeil los. "Das ist pure Lebensfreude", sagt er und strahlt.
"Ich habe mich selten behindert gefühlt", sagt an Huef. Unendlich dankbar ist er seinen Eltern, seinen Geschwistern, seiner Familie, seinen Freunden, Kollegen sowie ärztlichen und therapeutischen "Kümmerern", die ihm immer wieder Mut, Hoffnung und Zuversicht vermittelt haben.
Viermal hat der Salzufler die französische Komödie "Ziemlich beste Freunde" - darin geht es um den vermögenden Philippe, der im Rollstuhl sitzt, und seinen Pfleger, den Kleinganoven Driss - gesehen und weiß: "Darum geht es: Um Mitgefühl im Sinne von Verständnis, nicht um Mitleid."