Als in den 70ern die Lemgoer Mittelstraße zur Fußgängerzone wurde

Lemgo. Aus heutiger Sicht ist es unvorstellbar: Bis in die 1970er war die Mittelstraße Teil der Bundesstraße 66, der Marktplatz diente als Parkfläche. Dabei nahm der Verkehr in den Nachkriegsjahrzehnten stetig zu. Eine regelrechte Verkehrsflut war die Folge, obwohl die Achse bereits 1951 zur Einbahnstraße erklärt worden war.

Querende Passanten komplettierten das Chaos, auch tödliche Unfälle verzeichnete Lemgo. Dann in den 70ern das Husarenstück: Der Technische Beigeordnete Ulrich Faßhauer machte die Mittelstraße quasi im Alleingang zur Fußgängerzone.

Hilfe bekam Faßhauer, der später Stadtdirektor wurde, wenn nicht in den kommunalen Gremien, so doch von höchster Ebene des Kreisverkehrsamtes. Die Unterstützung hatte der Wahlbeamte auch bitter nötig – denn die Kaufleute stemmten sich mit voller Kraft gegen die geplante Umwidmung der Mittelstraße zur Fußgängerzone. &bdquo;Ihre Sorge war, dass der komplette Handel in sich zusammenbricht, wenn niemand vorm Geschäft parken kann", erläutert Faßhauer die Bedenken.

Also bediente sich der Technische Beigeordnete eines Tricks. Faßhauer brachte das Kreisverkehrsamt dazu, eine sogenannte verkehrsrechtliche Anordnung zu erlassen: Aus Gründen der Verkehrssicherheit wird die Mittelstraße zeitweilig gesperrt. Rot-weiße Baken wurden errichtet – mit einem Mal ging nichts mehr. Ein Trick, denn im Lemgoer Stadtrat war keine Mehrheit für die Fußgängerzone zu erreichen. &bdquo;So konnten wir aber beweisen, dass unser Plan funktionierte", erinnert sich Faßhauer. Denn die Kunden fanden doch weiter den Weg in die Geschäfte, die Skepsis in der Kaufmannschaft wich.

Nun konnte das Bauamt endgültig Nägel mit Köpfen machen – mit einer satten Unterstützung durch das Land wuppte Lemgo die Umgestaltung der Mittelstraße zur echten Fußgängerzone. Das neue Pflaster, von dem im Jahr 2019 die letzten Meter weichen, wurde verlegt. Bei der Einweihung im Rahmen einer &bdquo;Lemgo-Woche" im Mai 1976 galt die alte Hansestadt als Vorreiterin, sowohl was den Zeitpunkt als auch die Länge der Fußgängerzone anging. Faßhauer ging als &bdquo;Vater der Fußgängerzonen" in die Geschichtsbücher ein, Verkehrsplaner aus anderen Städten holten sich Ratschläge ein.

Dabei hatte es wenige Jahre zuvor noch ganz anders geklungen: Als die Mittelstraße unter dem Verkehr ächzte, wie sich der Hobbyhistoriker Hermann Hentschel erinnert, sollte, anstatt eine Umgehung zu schaffen, die Achse mitten durch die Stadt sogar verbreitert werden. Statt mehr Platz für Fußgänger sollte mehr Platz für Autos her, die südliche Bebauung der Mittelstraße dazu mehrere Meter zurückversetzt werden. Noch heute lässt sich am Neubau der Sparkasse in etwa die Flucht erkennen, die dafür vorgesehen war. Dazu kam es nicht – die Rettung für wertvolle Bausubstanz.

Und nicht nur das... &bdquo;Aus heutiger Sicht war die Fußgängerzone auf jeden Fall die richtige Entscheidung", betont Wolfgang Jäger, Chef von Lemgo Marketing. Die Flaniermeile sei das Aushängeschild und mache Lemgo zur &bdquo;Top-Einkaufsstadt". Bekanntlich gelingt es keiner anderen Kommune in Lippe, gemessen an der Einwohnerzahl, so viel Kaufkraft zu ziehen. Dafür spiele auch der ungestörte Bummel als Fußgänger eine Rolle. &bdquo;Mit Verkehr könnte man sich etwa die Freiluft-Gastronomie gar nicht vorstellen", sagt Jäger.

Einer, der die Mittelstraße noch befahren kennt, ist auch Horst Mengedoht, Eigentümer des gleichnamigen und traditionsreichen Schuhhauses. &bdquo;Meine Mutter hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, auf dem Bürgersteig selbst für Sauberkeit zu sorgen – jeden Morgen wurde bis zur Gosse gefegt", sagt Mengedoht. Derweil galt auf der Fahrbahn zeitweise nicht mal ein Tempolimit, erinnert sich Hentschel. Zur Zeit der Besatzung, so sei überliefert, wurden so zwei Kinder auf Höhe Niehaus von einem britischen Jeep, der zu schnell unterwegs war, überrollt und starben. Unfälle mit Verletzten gab es häufig.

Einen spektakulären Zwischenfall hatte aber auch die feierliche Einweihung der Fußgängerzone zu bieten: In der Festwoche sollte ein Tauziehen über die Bühne gehen – von einem Ende der Mittelstraße zum andere.

Das Plastik-Seil war eigens in Hamburg bestellt worden. Die LZ zitierte den Händler, der Bedenken zerstreute, das Seil könne reißen: &bdquo;Mit solchen Seilen binden wir Schiffe an." Doch hatte der Kaufmann nicht mit den Ideen der Lemgoer Jugendlichen gerechnet, die das Seil um einen Poller wickelten.

Als sich die Lipper ins Zeug legten und 6500 Kilo Kraft wirkten, scheuerte es so heftig, dass das Seil riss. Ein mobiler Pfefferkuchenstand vor dem Lippischen Hof wurde umgerissen und bis zur Buchhandlung Weege gezerrt. Die Frauen hinter der Theke verbrannten sich am heißen Fett. &bdquo;Die Verbrennungen zweiten und dritten Grades sind zum Glück kleinflächig", schrieb die LZ. Kinder mussten behandelt, ein Laternenmast ersetzt werden.

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