Lemgoer SS-Mann war als Wachmann in Auschwitz

Lemgo . Mit der späteren Ehrenbürgerin Karla Raveh (gestorben 2017) musste eine Lemgoerin die Leiden im Konzentrationslager Auschwitz erdulden. Das wissen viele Lemgoer seit Hanne Pohlmanns Forschungen in den 1980er Jahren. Weitgehend unbekannt ist dagegen, dass es auch einen Lemgoer gab, der in Auschwitz auf der anderen Seite &bdquo;Dienst" tat: Schneidermeister Karl Detering war vier Jahre lang Wachmann in dem Lager, das wie kein weiteres für die Verbrechen des Nationalsozialismus steht.

Letzterer wird dem 1907 in Lemgo geborenen Karl Detering und seinem älteren Bruder praktisch in die Wiege gelegt. Vater August (1877-1969) ist überzeugter Nationalsozialist der ersten Stunde, Ortsgruppenleiter der Lemgoer NSDAP, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, und 1932 Spitzenkandidat zur Kommunalwahl.

Hierbei wird die NSDAP in Lemgo klar stärkste Kraft. Die Söhne folgen dem Vater und treten spätestens 1932 in die SS ein. Auch Karl Deterings spätere Ehefrau Ella ist familiär eng mit der NSDAP verknüpft. Anders als Vater und Bruder macht Karl jedoch zunächst keine Karriere. Bis 1938 reicht es gerade einmal für den Titel eines SS-Sportwarts und Männerturnwarts im gleichgeschalteten Turnverein.

Der Vorwurf: Drückebergerei Bei Kriegsbeginn wird Detering Mitglied der Waffen-SS im Range eines SS-Schützen, doch behagt ihm der Kasernenton offensichtlich wenig – es gibt den Quellen zufolge Streit mit Vorgesetzten. Schon nach einem Jahr wird der Lemgoer wegen eines angeblichen Nieren- und Blasenleidens ausgemustert und kehrt in die Stadt zurück. Wenig später jedoch kommt es zum Eklat. Ein SS-Offizier erscheint in Lemgo und wirft Karl Detering Drückebergerei vor. Der Vorwurf: Er habe die Untersuchungsergebnisse für seine Ausmusterung manipuliert. Die &bdquo;Versetzung" zur SS-Totenkopfbrigade nach Auschwitz Anfang 1941 ist ein gesichtswahrender Kompromiss für beide Seiten.

Ob sie sich einmal begegnet sind – die Lemgoer Jüdin und der Lemgoer SS-Mann? Es ist eher unwahrscheinlich. Das Lager Auschwitz wächst rasant. Ursprünglich ein Lager für polnische Gefangene, werden seit 1941 Hunderttausende Juden eingeliefert und vielfach direkt in den Gaskammern im nahegelegenen Birkenau ermordet. Die Anzahl der SS-Männer und -Frauen, die längerfristig in Auschwitz stationiert waren, steigt schließlich auf bis zu 4000.

Über den KZ-Wachmann Detering weiß die Forschung wenig. Er war wohl &bdquo;normaler" Wachmann, wird schließlich jedoch zum Unterscharführer befördert und weiß als solcher über die Vergasungen ebenso Bescheid wie über die Erschießung von vermeintlich flüchtenden Gefangenen.

Dass er einmal selbst für sechs Wochen in Haft sitzen muss, liegt an seiner &bdquo;Arbeitshaltung", die von Vorgesetzten als antriebslos und schlampig beschrieben wird. So waren dem Wachmann polnische Gefangene entkommen.

Reue zeigt er dennoch nicht. So äußert er später in seinem Prozess, nach der Situation der Häftlinge gefragt, lapidar: &bdquo;Dem einen Häftling ging es gut, dem anderen schlecht."

Einen Tag nach Beginn der Evakuierung von Auschwitz am 17. Januar 1945 wird er zur kämpfenden Truppe abkommandiert. Er hat Glück: Vier Tage später erhält er bei Gefechten einen Streifschuss und kommt ins Lazarett nach Thüringen. Nach seiner Genesung setzt er sich nach Lemgo ab, wo ihn die Briten verhaften.

Vor Gericht steht er schließlich 1948 in Hamburg. Wieder hat er Glück: Der aufziehende Kalte Krieg beschert ihm eine milde Haftstrafe. Er erhält lediglich eine 18-monatige Gefängnisstrafe und verlässt das Gericht als freier Mann, denn seine Zeit in Internierungshaft wird angerechnet. Auch mit der Entnazifizierung geht es voran: Der Vorsitzende des Spruchkammerverfahrens ist ein alter Bekannter und stuft Karl Detering vom Mittäter zum Mitläufer herab.

Wie sein Vater wird er in die Lemgoer Gesellschaft reintegriert. Während Vater August Ehrenhauptmann der Schützengesellschaft wird, widmet sich Karl der Kinder- und Jugendarbeit. Im Turnverein wird er Leiter der Faustball- und Leichtathletikabteilung.

Seine jungen Schüler wissen nichts von seinem Vorleben und zeigen sich – wie der damals junge Leichtathlet Dieter Halle – Jahrzehnte später &bdquo;erschüttert und entsetzt" über diese Erkenntnis. Nach dem Tod des Vaters verkauft Karl 1970 sein Elternhaus am Ostertor und wird 1971 – 63-jährig und trotz eines bei der Entnazifizierung 1948 verhängten Verbots – Mitarbeiter im Ordnungsamt. Wohl ein Versorgungsposten, vermutet der spätere Leiter des Sozialamts, Josef Fischer-Bernard. Gesundheitlich angeschlagen stirbt Detering im Jahr 1975. Unser Autor hat in der Zeitschrift für lippische Geschichte &bdquo;Rosenland" zu dem Thema unter dem Titel &bdquo;Lippische Sportler im ,Jahrhundert der Lager" veröffentlicht.

Gedenken an Befreiung des Vernichtungslagers Der 27. Januar ist seit 1996 bundesweiter Gedenktag. Seit 2005 ist er zudem Tag des Gedenkens der Vereinten Nationen an die Opfer des Holocaust. Das Datum nimmt Bezug auf die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau mitsamt seiner 50 Außenlager durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. Schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen – vor allem Juden – wurden in den Gaskammern des Lagers und durch die Willkür der Aufseher ermordet oder starben an den miserablen Haftbedingungen. In Lemgo findet anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am morgigen Freitag, 24. Januar, ab 19 Uhr im Rathaus eine Lesung der Schriftstellerin Jennifer Teege aus ihrem Buch &bdquo;Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen" statt.

Spuren des KZ-Aufsehers Karl Detering liegen inzwischen auch im Internet vor – auf der Seite des polnischen Instituts des Nationalen Gedenkens ( IPN , direkter Link: cutt.ly / frmQWl3 oder per Suche unter SS-Mannschaft auf truthaboutcamps.eu ). Das IPN verfolgt seit 1998 den Auftrag des polnischen Parlaments, an die Opfer, Verluste und Schäden zu erinnern, die Polen während des Zweiten Weltkriegs erlitten hat. Auch in den Lexikoneinträgen über Auschwitz (Ernst Klees &bdquo;Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde") gibt es knappe biografische Angaben.

Ein verstörendes Familiengeheimnis Jennifer Teege liest aus ihrem Buch.

Den 75. Jahrestag der Befreiung des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau im heute polnischen Oswiecim begeht Lemgo mit einer Lesung. Zu Gast ist Jennifer Teege am morgigen Freitag, 24. Januar, ab 19 Uhr im großen Sitzungssaal im Rathauses. Es laden die Städtischen Museen, der Arbeitskreis 9. November, die Stadtbücherei sowie der Verein &bdquo;Stolpersteine und Frenkel-Haus in Lemgo" ein. Die Lesung dauert etwa eine Stunde, im Anschluss gibt es die Möglichkeit, mit der Schriftstellerin ins Gespräch zu kommen. Der Besuch der Veranstaltung ist kostenfrei. Es gibt auch einen Büchertisch, den die Buchhandlung Pegasus, Mittelstraße, aufbaut.

Im Rowohlt-Verlag ist Jennifer Teeges Buch erschienen – es trägt den Titel: &bdquo;Mein Großvater hätte mich erschossen". Dazu heißt es, dass die Autorin erst im Alter von 38 Jahren durch Zufall erfahren habe, wer sie sei: In einer Bibliothek findet sie ein Buch über ihre Mutter und ihren Großvater Amon Göth. Dessen Geschichte kennen Millionen Menschen. Er ist in Steven Spielbergs Film &bdquo;Schindlers Liste" der brutale KZ-Kommandant und Gegenspieler Oskar Schindlers. Göth war verantwortlich für den Tod Tausender Menschen und wurde 1946 gehängt. Seine Lebensgefährtin Ruth Irene, Jennifer Teeges geliebte Großmutter, beging 1983 Selbstmord.

Teege selbst ist die Tochter einer Deutschen und eines Nigerianers. Sie wurde bei Adoptiveltern groß und hat in Israel studiert. Mit 38 Jahren wird sie mit dem Familiengeheimnis konfrontiert, das ihr keine Ruhe lässt: Wie kann sie jüdischen Freunden unter die Augen treten? Was soll sie ihren Kindern erzählen? Mit Journalistin Nikola Sellmair hat Teege in Israel und Polen ihre Familiengeschichte recherchiert und aufgeschrieben.

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