Expertin in Lemgo: „Ich führe Eltern an den Abgrund dessen, was im Netz los ist“

Lemgo. Silke Müller ist viel beschäftigt. Wir erreichen sie telefonisch in ihrem Büro an der Waldschule Hatten im Landkreis Oldenburg, wo sie als Schulleiterin noch rasch ein Gespräch beendet. &bdquo;So, jetzt bin ich so weit!“ Müller, geboren 1980, ist Mutter zweiter Stiefkinder, präsent in Podcasts und TV-Sendungen und wurde zur ersten niedersächsischen Botschafterin für Digitalisierung ernannt. Am Dienstag, 11. März, spricht sie auf Einladung der Stadt im InnovationSpin über das digitale Leben unserer Kinder.

Frau Müller, Sie sind Schulleiterin, haben zwei Bücher geschrieben und halten europaweit Vorträge. Man hat den Eindruck, Sie wollten &bdquo;nur noch kurz die Welt retten“. Wie schaffen Sie dieses Pensum?

Silke Müller: Ich schaffe das eigentlich gar nicht mehr (lacht). Anfangs hatte ich nicht damit gerechnet, dass es eine solche Dimension annimmt. Inzwischen bin ich einen Tag in der Woche an der Schule &bdquo;off“, sodass ich zum Beispiel einen Vortrag in Bayern halten kann. Vor allem aber habe ich das Gefühl, dass die Botschaft, die ich aussende, jetzt meine Mission ist: Ich spreche für die Kinder und die nachfolgenden Generationen. Und ich finde, dass wir die zu oft zu wenig in den Fokus nehmen. Insofern stimmt es: Eine muss es machen!

Ihre Veranstaltung in Lemgo ist längst ausgebucht. Der Bedarf an Tipps für den Umgang mit der digitalen Welt scheint enorm zu sein.

Silke Müller: Absolut. Ich bin seit zwei Jahren non-stop auf Vortragsreise und das Interesse reißt nicht ab.

Ihr Erfolgsgeheimnis?

Silke Müller: Ich versuche, nicht zu belehren. Das könnte man als Schulleiterin ja gut - schön mit erhobenem Zeigefinger. Mir geht es darum, Emotionen zu wecken. Ich führe einmal galant an den Abgrund dessen, was los ist im Netz.

Kommen zu Ihnen vor allem Eltern, bei denen es zu Hause bereits knallt beim Thema Mediennutzung?

Silke Müller: In Niedersachsen sagen wir: Wenn man mit Gummistiefeln im Mist steht, ist so lange alles gut, wie einem die Gülle nicht oben hineinläuft. Wir kommen erst durch Leidensdruck ins Handeln. Ich habe das Gefühl, dass wir lange sehr dickfellig waren beim Thema Smartphone-Nutzung. Wir reden plattitüdenhaft über Rassismus, Pornografie oder Gewalt, aber wir fühlen nicht, was es wirklich bedeutet. Dabei sind heute schon Grundschüler diesen Inhalten ausgesetzt.

Sie sagen, es sei schwer fahrlässig, Kindern das &bdquo;Internet in die Hosentasche“ zu packen - frei verfügbar.

Silke Müller: Es gibt kein Bewusstsein darüber, welche Gefahren überall lauern. Dass pädokriminelle Triebtäter ihr Unwesen treiben, dass es traumatisierende Inhalte gibt, toxische Schönheitsideale, dass die totale Abhängigkeit droht - und dass dieses Suchtverhalten auch Konsequenzen hat. Da sind wir bei Leistungsabfall, Konzentrationsschwäche, Depressionen, Ängsten, Übergewicht. Mittlerweile wurde das auch evidenzbasiert gemessen. Es sind Zahlen, die einen zusammenzucken lassen.

Sie sagen ganz klar: Kein Smartphone unter 14, kein Social Media unter 16. Wie sollen Eltern das durchhalten? Wer heute in der fünften Klasse kein Smartphone hat, wird schnell zum Außenseiter.

Silke Müller: Ja, und das hat unsere Generation verschuldet. Mein Wunsch wäre es, Kinder erst so lange wie möglich auf Werte, einen moralischen Umgang miteinander und auf Respekt hin zu begleiten, bevor ich sie in der medialen Welt allein lasse.

Wenn mich Zuhörer nach dem richtigen Alter für das erste Smartphone fragen, antworte ich gern: &bdquo;35!“ (lacht) Ich erkenne an, dass das Smartphone heute für Kinder auch ein Medium der Freundschafpflege ist. Da sollte ich Teilhabe ermöglichen, nur eben sehr kontrolliert und begleitet. Wenn mir die Gefahren bewusst sind, kann ich völlig andere Regeln machen, etwa einen Handy-Nutzungsvertrag aufstellen.

Würden Sie sich wünschen, die Eltern kämen früher zu Ihren Vorträgen?

Silke Müller: Es ist immer eine super Idee, dem Kind im Nachhinein zu sagen: &bdquo;Gib mir mal dein Smartphone, ab heute machen wir Einschränkungen.” (lacht) Ideal wäre, dass die Eltern sich auf den Bewusstseinsweg machen, bevor digitale Medien in das Elternhaus eingezogen sind. Sie sollten sich klar darüber sein, dass es Regeln und Schutzmechanismen braucht. Denn die setze ich nur ein, wenn ich verstehe, dass es hier um eine reelle Gefahr geht.

Sind Eltern, was all das betrifft, zu faul?

Silke Müller: Ja. Ich glaube, wir alle. Und ich verstehe auch, dass es nervt, wenn ich sage: Jedes Online-Game, das ihr Kind zocken möchte, haben Sie bitte selbst einmal durchgespielt, zwei, drei Tage – besser ein, zwei Wochen. Denn erst dann erkennen sie: &bdquo;Moment mal, da werd ich über eine Chatfunktion angesprochen von Leuten, die ich gar nicht kenne!“ Oder sie fühlen, wie süchtig es machen kann, wenn man ins nächste Level will.

Man kann auch TikTok nicht verstehen, wenn man nie auf TikTok war. Diese Dauerschleife an Videos, und wie schnell man in eine Filterblase gerät. Ich sage dann: &bdquo;Leute, ich weiß, dafür werdet ihr mich hassen, aber das ist unsere Aufgabe, und die gehört mittlerweile für Erziehende dazu.“

Ihr Buch heißt: &bdquo;Wir verlieren unsere Kinder.“ Wie meinen Sie das?

Silke Müller: Wir verlieren die Kinder als fröhliche Menschen, die unbeschwert aufwachsen dürfen - denn das ist mit der Nutzung von Social Media vorbei. Der Druck ist allgegenwärtig, dazu die überfordernden Inhalte. Doch wir verlieren sie auch als demokratische Menschen. Wir stumpfen ab, da wir immer nur konsumieren. Und dann ist da die physische Unversehrtheit, die leidet. Denken Sie allein an gesundheitliche Schäden durch bescheuerte Challenges.

Man darf sich nichts vormachen: Diese Netzwerke sind Tech-Giganten. Die beeinflussen unsere komplette Gesellschaft, die ganze Welt. Nicht nur in Alltags-, sondern auch in politischen Fragen, Stichwort Wahlmanipulation. Das ist eine Macht, die dahinter steht. Es wäre albern zu sagen, wir könnten da einen Wettlauf gewinnen.

Das klingt sehr düster. Was können wir tun?

Silke Müller: Niemand ist so verloren, als dass man ihn nicht irgendwie wiederfinden und retten kann. Dabei geht es vor allem um Beziehungsarbeit. In erster Linie müssen wir sehr offen sein für die Kinder als Begleiter, als Back-up, als Ansprechpartner - auch die Großeltern. Wir müssen ihr emotionaler Kompass sein und die Themen an den Abendbrottisch bringen, ohne immer gleich ein großes Fass aufzumachen, eine Riesen-Eskalation. Wir müssen neugierig sein und in echte Gespräche einsteigen. Das haben wir zu lange nicht getan.

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