Leopoldshöhe. Dagmar Voss ist entsetzt, als sie ihre 90 Jahre alte Mutter Anfang Juli in der Kurzzeitpflege besucht. Mehr liegend als sitzend hängt die alte Dame in einem Stuhl. "Sie war in einem desolaten Zustand", sagt Dagmar Voss. Mit dem Notarztwagen wird Lieselotte Thomas ins Klinikum Lippe gebracht. Dort wird eine starke Dehydrierung diagnostiziert. Obwohl die alte Dame nur kurz im Seniorenruhesitz Sielemanns Hof untergebracht war, besteht die Einrichtung auf Bezahlung des gesamten Zeitraumes bis 18. Juli abzüglich einer Pauschale für die Zeit im Krankenhaus.
Für Claudia Birkmann, Geschäftsführerin von Sielemanns Hof, gab es hinsichtlich Lieselotte Thomas keinen Grund, besorgt zu sein: "Ich habe Frau Thomas noch am Tag vorher im Flur getroffen. Sie war gut drauf", berichtet Birkmann. Gestützt wird diese Ansicht von einem Eintrag in der Pflege-Dokumentation am Montag, 8. Juli: Teilnahme am Singkreis, . . ., äußerte auch einen Beitrag und wirkte motiviert und heiter." Dieser Eintrag ist von der EDV-gestützten Dokumentation um 17.51 Uhr erfasst worden.
Gegen 19.30 Uhr hat eine Nachbarin von Dagmar Voss mit Lieselotte Thomas telefoniert, gegen 20 Uhr führte Dagmar Voss ein Telefonat mit ihrer Mutter und kurz nach 20 Uhr rief deren Enkelin Catharina Voss ihre Großmutter an. Alle drei hatten den Eindruck, dass Thomas auffällig abwesend und durcheinander war.
Das war auch der Grund dafür, dass die voll berufstätige Frau am folgenden Tag ihre Mutter im Sielemanns Hof besuchte und sie in diesem "desolaten Zustand" vorfand. "Sie war nicht ansprechbar. Selbst als ich ihr die Wangen klopfte, reagierte sie nur mit einem Augenflattern. Ihr Kopf fiel immer wieder nach hinten, ihr Gesicht sah weißlich-gelb aus", berichtet Dagmar Voss. Ein Teller mit drei Scheiben Zwieback und ein Glas Tee standen auf dem Tisch. "Beides war eindeutig nicht angerührt", sagt Voss.
Auch hier widersprechen Mitarbeiter der Pflegeeinrichtung Sielemanns Hof. Dagmar Voss fragte die diensthabende Schwester, ob ihre Mutter gegessen und getrunken hatte. Diese Frage wurde bejaht. Doch weder auf der Tischdecke noch auf dem Schoß ihrer Mutter fand Voss Zwiebackkrümel. "Und wer schon einmal Zwieback gegessen hat, weiß, wie stark die krümeln." Auch Claudia Birkmann versicherte, dass Thomas etwas zu sich genommen habe.
Mit der Notfallambulanz wurde Lieselotte Thomas gegen 12.30 ins Klinikum Lippe in Lemgo eingeliefert. "Die Ärztin in der Notaufnahme erklärte mir und meiner Tochter gegen 14.30, dass bei meiner Mutter eine akute Dehydrierung bestünde", sagt Dagmar Voss.
Bemerkenswerterweise ist in der Pflegedokumentation mit dem Zeitstempel 13.48 Uhr vermerkt: "Frau Thomas klagte heute morgen über Übelkeit und wollte auf Wunsch im Bett bleiben. Hat etwas Zwieback gegessen und Wasser getrunken." Seltsam ist dieser Eintrag deshalb, weil die Geschäftsführerin auf Anfrage mitteilte, dass die Dokumentation zeitnah nach einer pflegenden Tätigkeit eingetragen werde. Zu dem angegebenen Zeitpunkt befindet sich Lieselotte Thomas aber bereits im Klinikum.
Als Dagmar Voss mit ihrer Tochter gegen 13 Uhr das Zimmer ihrer Mutter räumte und die Medikamente aus dem Schwesternzimmer holte, sagte die diensthabende Schwester wiederholt: "Lassen Sie sich bloß nicht verunsichern, wenn die Klinik Ihnen weismachen will, Ihre Mutter hätte zu wenig getrunken. Das machen die immer so." Diese Aussage bekam Voss dann noch einmal schriftlich vom Einrichtungsleiter Burkhard Linning mitgeteilt: "Die (Diagnose) gilt in Fachkreisen als Standarddiagnose bei Einweisung älterer Menschen, im Wesentlichen aus abrechnungstechnischen Gründen."
Und auch Claudia Birkmann äußerte sich im Gespräch mit dieser Zeitung in gleicher Weise. Dazu Dr. Jochen Niehus, Leitender Oberarzt für Innere Medizin im Klinikum Lippe in Lemgo: "Diagnosen werden aufgrund von Untersuchungen gestellt. Eine Dehydrierung zu diagnostizieren ist nicht schwierig. Man sieht es eigentlich auf den ersten Blick. Das Argument hinsichtlich der Abrechnung kann ich nicht nachvollziehen, weil wir einzelne Infusionen gar nicht abrechnen können. Dafür gibt es Fallpauschalen."
Weil das Pflegepersonal sich gegenüber ihrer Mutter nach Ansicht von Dagmar Voss grob fahrlässig verhalten hat, reichte sie eine Beschwerde bei der Heimaufsichtsbehörde ein. Dort hat man bereits reagiert und den Sielemanns Hof begutachtet. Eine Auswertung steht noch aus.
Trotz all dieser Diskrepanzen besteht die Pflegeeinrichtung auf Bezahlung der Kosten bis zum vereinbarten 18. Juli. Das aber sieht Dagmar Voss nicht ein.