Traumapädagogin Sabine Haupt-Scherer: "Wir haben alle Traumatisches erlebt"

Lügde. Sexuelle Gewalt. Krieg. Unfälle. Verluste. Traumata haben viele Gesichter und können sich tief in unserem Bewusstsein festsetzen. Gerade für Kinder und Jugendliche, die wir Erwachsenen eigentlich schützen müssten, sind seelische Wunden nur schwer zu ertragen. Noch viele Jahre später können schmerzhafte Erinnerungen an das Erlebte Verhaltensweisen und Gefühle hervorrufen, unter denen Betroffene und ihre Umgebung leiden.

Traumapädagogin Sabine Haupt-Scherer will mit ihrer Arbeit jungen Menschen sowie Fachkräften helfen, traumatische Erfahrungen besser zu verstehen und daran zu wachsen. Am Donnerstagabend gibt die 59-Jährige anlässlich des Projekts &bdquo;Die Bunten Hunde" im Klostersaal Lügde von 18 bis 20.30 Uhr Einblicke ins Thema. Die LZ hat vorab mit ihr gesprochen.

Frau Haupt-Scherer, gerade Opfer sexualisierter Gewalt leiden sehr unter dem Erlebten. Warum werden sie manchmal selbst zum Täter?

Sabine Haupt-Scherer : Nicht jedes Opfer wird zum Täter, doch das Risiko ist natürlich höher. Das lässt sich sogar neurobiologisch erklären. Denn das Bild des Täters lebt weiter und bleibt. Meist geht es dann gar nicht darum, dass jemand später gar selbst sexuelle Gewalt anwendet, sondern man bekommt bei Kindern und Jugendlichen eine deutlich schlechtere Impuls- und Affektkontrolle mit. Das äußert sich dann teilweise in Ausrastern.

Wie geht man am besten mit so einem auffälligen Verhalten um?

Haupt-Scherer : Wichtig ist vor allem, dass Fachkräfte begreifen, womit sie es zu tun haben. Sie müssen verstehen, dass das Verhalten sich nicht gegen sie richtet und lernen, wie sie selbst reagieren können, damit betroffene Kinder nicht unnötig getriggert werden. In der Traumapädagogik geht es ja darum, wieder einen besseren Umgang mit sich selbst zu erlernen, wohingegen beispielsweise eine Traumatherapie das Erlebte aufarbeitet.

Man hat oft das Gefühl, dass der Traumabegriff sehr inflationär verwendet wird. Wo fängt Trauma überhaupt an?

Haupt-Scherer : Das ist eine ganz subjektive Kategorie. Wenn ich mich mit dem Auto überschlage, kann es sein, dass ich keinen Fuß mehr in einen Wagen setzen kann. Ein anderer klopft sich die Flammen vom Asbestanzug und steigt wieder ins Fahrzeug. Ein Trauma ist immer eine toxische Stresserfahrung. Es geht nicht um die Schrecklichkeit des Ereignisses, sondern um die Ohnmacht und Machtlosigkeit, die es in mir auslöst. Es ist existenzbedrohend und ich bin ihm ausgeliefert.

Und ein Trauma kann jederzeit wieder hochkommen...

Haupt-Scherer : Ja, oft werden die Erinnerungen traumatischer Erlebnisse durch gewisse Situationen getriggert, also ausgelöst. Wenn ein syrisches Mädchen, das sich in Deutschland schon gut eingelebt hat, auf dem Schulhof spielt und plötzlich ein Hubschrauber vorbeifliegt, dann werden die anderen Kinder wahrscheinlich denken: Oh, der transportiert gerade Verletzte. Das Mädchen dagegen rennt schreiend weg und versteckt sich, weil es denkt, der Hubschrauber könnte schießen. Denn das Flugzeug erinnert sie an den Krieg in der syrischen Heimat.

Die von Ihnen beschriebene Situation scheint recht klar. Aber wie kann man weniger auffällige Trigger entlarven?

Haupt-Scherer: Es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, Tagebuch zu führen und die Situationen aufzuschreiben, in der das Kind auffällig reagiert. Wenn man zehn Szenarien gesammelt hat, kann man abgleichen, welche Ähnlichkeiten sie aufweisen und so herausfinden, wo möglicherweise ein Zusammenhang besteht.

Kann man auch erkennen, woher ein Trauma kommt? Zum Beispiel, ob es durch sexuelle Gewalt verursacht wurde?

Haupt-Scherer : Traumata wirken sich immer ähnlich aus. Allerdings ist gerade sexuelle Gewalt sehr intensiv, weil die innersten Körpergrenzen verletzt werden. Doch genauso schmerzhaft kann eine Vernachlässigung sein. Da geht es ja auch um essenzielle Dinge, wie die Nahrungsaufnahme. Für ein kleines Kind ist es schon sehr existenzbedrohend, einfach alleine gelassen zu werden.

Oft heißt es, Opfer von sexueller Gewalt bekommen lebenslänglich. Kann man so ein Trauma tatsächlich nicht überwinden?

Haupt-Scherer : Das ist sehr unterschiedlich. Man kann natürlich nichts ungeschehen machen, das Erlebte bleibt ein Teil von einem. Aber genauso kann es auch ein traumatisches Wachstum geben. Menschen, die Kräfte entwickeln, die sie sonst gar nicht in sich gehabt hätten. Das Trauma verändert einen, im besten Fall kann man es aber in sein Leben integrieren.

Wann sprechen Sie in Ihrer täglichen Arbeit als Traumapädagogin von einem Erfolg?

Haupt-Scherer : Das ist schwer zu Verallgemeinern. Ich kriege natürlich mit, wenn jemand nicht mehr sein eigenes Erdmännchen ist und wieder Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten findet. Wenn Kinder und Jugendliche wieder Beziehungen zu anderen eingehen, ihre Impulse besser kontrollieren und für sich selbst Verantwortung übernehmen, dann kann man schon von Erfolg sprechen.

Hilft Ihnen dabei, dass Sie auch Pfarrerin sind?

Haupt-Scherer: Das ist sicherlich kein Zufall, meine Arbeit hat jetzt auch viel mit ethischen Grundlagen zu tun. Es geht um Schuld, Tod und auch darum, den Sinn im Leben wiederzufinden.

Wie viel Platz nehmen Traumata denn in unserer Gesellschaft ein?

Haupt-Scherer : Nahezu alle sind traumatisiert. Wir wissen etwas von ohnmächtig machenden Existenzbedrohungen, aber nicht alle haben mit den Folgen zu kämpfen. Das betrifft auch so gut wie alle Kinder und Jugendlichen, mit denen ich in Hilfseinrichtungen zu tun habe. Und dazu wird jeder etwas Ähnliches aus seiner eigenen Biografie kennen. Traumata sind ein Grundding vom Menschsein. In den meisten Fällen heilt es vollständig, während andere mit den Folgen lange leben müssen.

Weshalb boomt die Traumapädagogik denn gerade jetzt?

Haupt-Scherer : Wir fangen wahrscheinlich gerade jetzt an zu verstehen, warum manche Jugendliche so sind, wie sie sind und die Art und Weise, wie wir im Moment Kapitalismus leben, macht es nicht besser. Noch dazu hängen wir mit der Traumapädagogik sehr zurück, wir sind eines der letzten EU-Länder, die das Phänomen auf die Agenda gesetzt hat. Es wurde langsam auch Zeit.

Weshalb ist Deutschland da so spät dran?

Haupt-Scherer : Das hat viel mit unserer Geschichte zu tun. In der Nachkriegszeit hat sich Deutschland berechtigterweise für eine lange Zeit nur mit der eigenen Täterschaft auseinandersetzen müssen. Das Opfersein von Deutschen durfte nicht thematisiert werden. Wirklich geändert hat sich das erst tatsächlich Ende der 1990er Jahre beziehungsweise Anfang der 2000er. Zusätzlich wurde der Prozess durch das Zugunglück von Eschede beschleunigt, bei dem im Jahr 1998 insgesamt 101 Menschen starben.

Persönlich Sabine Haupt-Scherer ist 59 Jahre alt, verheiratet und lebt in Bielefeld. Die ausgebildete Traumapädagogin hat als Pfarrerin in der Landeskirche angefangen und lange auch in Beratungsstellen an sozialen Brennpunkten sowie als Seelsorgerin gearbeitet.

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