Oerlinghausen. Bürgervillen, Bruchsteinmauern, versteckte Gassen und Stiegen - die Oerlinghauser Altstadt am Tönsberghang weist einen reichen historischen Schatz auf. Diesen will die NW in einem Rundgang mit Stadtführerin Annegret Müller näher bringen.
Um das Gesundheitswesen in Oerlinghausen war es zu Beginn es 19. Jahrhunderts - aus heutiger Sicht - nicht gut bestellt. Ein Amtschirurg hatte für Notfälle eine kleine Hausapotheke. Zweimal wöchentlich schickte er einen Boten nach Bielefeld, der mit Medikamenten aus den dortigen Apotheken zurückkam.
Für die Errichtung einer Apotheke im Amt Oerlinghausen hatte es zwar Interessenten gegeben, wie zum Beispiel den Apotheker Beissenhirtz aus Lage oder Husemann aus Detmold, aber die fürstliche Regierung in Detmold erteilte keine Konzession. Fürstin Pauline begründete, dass der Amtschirurg mit einer Apotheke als Konkurrenz seinen Verdienst aus der Hausapotheke und damit seinen Wohlstand einbüßen würde. Auch die Petitionen der Oerlinghauser Bürger konnten die Regierung in Detmold nicht umstimmen.
Ems-Quelle: Die entspringt im Innern des Hauses. - © Peter Müller Ems-Quelle: Die entspringt im Innern des Hauses. | © Peter Müller
Erst als der Gutsbesitzer von Niederbarkhausen, Friedrich Ludwig Tenge, damit drohte, er werde für die Errichtung einer Apotheke im benachbarten Preußen sorgen, erteilte die lippische Regierung die Konzession für eine Apotheke im Amt Oerlinghausen.
Die erste Apotheke eröffnete 1831 Friedrich Ernst Melm - an den Amtschirurgen Kirchner musste er noch etwa 30 Jahre lang eine Entschädigung von 20 Talern pro Jahr zahlen. Melm stammte aus einer Bremer Apothekerfamilie, die heute auf eine 300 Jahre währende Apothekertradition zurückblicken kann. Das Wahrzeichen war und ist noch immer der Hirsch. In Bremen am Marktplatz der "güldne" liegende Hirsch, in Oerlinghausen der stehende, äsende Hirsch und auf den Produkten des jetzigen Apothekers der springende Hirsch.
In der sechsten Generation ist die Oerlinghauser Apotheke in Familienbesitz. 1893 mit der Heirat von Emilie (Milly) Melm und Carl Wachsmuth mit der Schwalenberger Apothekerdynastie verknüpft. Die Wappen der beiden Familien befinden sich über dem Eingang. Den Familiennamen Wachsmuth-Melm führen die Besitzer seit dem 100-jährigen Bestehen der Apotheke, weil der Gründername Melm in männlicher Linie ausgestorben war.
Direkt nach seiner Niederlassung in Oerlinghausen kaufte Melm ein Baugrundstück vom Gutsbesitzer Niederbarkhausen und bezog schon bald das neu errichtete Apothekengebäude. Die Jahreszahl 1831 steht über dem alten, damals höher gelegenen Eingang, der über eine große Treppe erreicht wurde. Als Friedrich Ernst Melm im Nebenerwerb auch Postexpediteur war und die Apotheke eine Poststelle hatte, verteilte der Apothekerknecht am Sonntag auf der Treppe stehend die Briefe. Die Menschen vom Land kamen zum Gottesdienst in die Alexanderkirche und holten anschließend ihre Briefe ab. War der Empfänger nicht da, nahmen die Nachbarn die Briefe mit.
Weil der Post- und Paketversand durch den Leinenhandel und die Zigarrenindustrie deutlich anstieg, wurde die Apotheke 1856 bis 1859 durch einen Anbau vergrößert. Dazu kaufte Melm ein Grundstück von Gut Niederbarkhausen mit der höchstgelegenen Emsquelle. Die Quelle wird heute in der Apotheke in einen großen Steinmörser geleitet, das frische Quellwasser ist trinkbar.
Es gibt aber nicht nur Wasser in der Apotheke. Eine Spezialität ist der aus 28 Kräutern bestehende "Melmer". Der Lippische Edelbitter wird nach einem alten Familienrezept der Hirsch-Apotheke in Bremen hergestellt und ist weit über die Grenzen Lippes hinaus bekannt.
Zum 100-jährigen Firmenjubiläum im Jahre 1931 wurde ein Erweiterungsbau in pavillonartiger Bauweise errichtet. Dieser erhielt fünf bunte, bleigefasste Glasfenster nach einem Entwurf von Carl Löwe. Abgebildet sind Arzneipflanzen und im mittleren Fenster das Firmenlogo der äsende Hirsch vor dem Windmühlenstumpf. Die neunstufige Eingangstreppe wurde 1958 entfernt, als der Innenraum und der Eingang auf Straßenniveau abgesenkt wurde. Mit der Apotheke kamen auch Ärzte nach Oerlinghausen. Ab 1831 ließen sich verschiedene Ärzte nieder. Seit 1887 praktizierte der Mediziner Leopold Martheus in Oerlinghausen. Er ließ sich an der Detmolder Straße 3 eine schöne Villa im Neobarock bauen. Der Bau eines Altenheims, das "Kiffestift" 1888 und der Bau eines Krankenhauses, das "Mariannenstift" 1893, vervollständigte das Gesundheitswesen in Oerlinghausen.
Apotheke, Arzt, Altenheim und Krankenhaus waren weitere wichtige Bausteine auf dem Weg Oerlinghausens zur Anerkennung als Stadt.
- Die Serie basiert auf dem Konzept von Stadtführerin Annegret Müller, gibt aber nicht den kompletten Inhalt der Führung wieder.
- Bei ihrem „Historischen Stadtrundgang“ erzählt sie die Geschichte der Altstadt insbesondere vom 19. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert, Oerlinghausens Stadtwerdung und „Blütezeit“.
- Die Führungen bietet sie für Gruppen bis zu 20 Teilnehmern an und richtet sich auch nach Wünschen der Gruppe.