Schieder-Schwalenberg. Künstler Gunter Demnig kniet am Boden vor dem alten Fachwerkhaus in der Marktstraße 5 in Schwalenberg, nacheinander setzt er die sechs Gedenktafeln aus Messing in die Löcher des Kopfsteinpflasters ein. Mehr als 100.000 solcher Stolpersteine, die an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, wurden bereits in insgesamt 28 Ländern verlegt – die ersten sechs nun auch in Schieder-Schwalenberg. In Gedenken an Emmy, Gustav, Franziska, Heinz und Hildgard Bachrach sowie Willi Harf.

Während Demnig mit Gummihammer und Kelle die Steine befestigt, hören die Gäste, die sich rundherum versammelt haben, welch unsagbares Leid die Familie Bachrach und ihr Lehrling Willi Harf erfahren mussten. Sie waren einer der wenigen, die auch nach der NS-Machtübernahme 1933 in Schwalenberg geblieben waren und die Ausgrenzung der Juden durch die NS-Behörden hautnah miterlebten und schließlich ermordet wurden.
Nachfahre erzählt aus dem Leben seiner Mutter
„Die Steine erinnern uns an Menschen, die niemand von uns persönlich kannte und doch berühren uns ihre Geschichten“, sagte Mitorganisatorin Bettina Postma-Hanke bei ihrer Begrüßung. Besonders emotional ist diese Feierstunde vor allem für eine Person gewesen – Alan Luedeking. Er gehört zu den Nachfahren der Familie Bachrach und ist für die Verlegung der Stolpersteine extra aus Miami angereist.
„Meine Mutter sprach mit mir nur sehr selten über den Schmerz ihrer Vergangenheit, aber sie hat dafür gesorgt, dass ich Deutsch gelernt habe“, erzählt der 64-Jährige von Marianne Bachrach. Sie war die Tochter von Julius Bachrach, der am 16. Juli 1879 als jüngster Bruder von Gustav Bachrach in Schwalenberg geboren wurde. Julius Bachrach heiratete Olga Neufeld aus Plettenberg. „Meine Mutter wuchs als Einzelkind auf“, erzählte der Amerikaner. Ihr älterer Bruder Helmut sei 1918, ein Jahr vor ihrer Geburt, mit fünf Jahren an Diphtherie gestorben. Ärzte hätten die Behandlung des jüdischen Kindes abgelehnt.
Auswanderung in die USA
„1933 konnte meine Mutter nicht mehr an den Spielen in der Pause teilnehmen, weil sie keinen ihrer Mitschüler gefährden wollte“, führte Luedeking weiter aus, der gemeinsam mit seinen beiden Töchtern sowie seiner Cousine Petra Ahrens, die in Deutschland lebt, nach Schwalenberg kam. 1936 habe Marianne Bachrach schließlich nicht mehr zur Schule gehen können, weswegen ihre Eltern sie in ein Schweizer Internat brachten. Anfang 1939 wanderte sie in die USA aus. Ihr Vater starb im Ghetto, ihre Mutter im Konzentrationslager.
Gemeinsam mit ihrem Mann lebte sie in New York, Nicaragua und schließlich in Miami. „Sie engagierte sich ihr ganzes Leben lang für wohltätige Zwecke“, erinnert sich Luedeking an seine Mutter, die im Mai 2017 im Alter von 97 Jahren verstarb.
Emotionaler Besuch
Für Alan Luedeking war es der erste Besuch in Schwalenberg, erzählte er im Gespräch mit der LZ. Der Festakt sei für ihn sehr bewegend gewesen. Er sei er dankbar, dass an seine Vorfahren erinnert werde. Noch emotionaler werde für ihn wohl der bevorstehende Besuch des Heimatortes seiner Mutter, glaubt er. Vor seiner Abreise am Wochenende werde er nach Plettenberg fahren – ebenfalls zum ersten Mal.

Erinnerungen wachhalten
„Fast 80 Jahre nach der Shoa ist Antisemitismus wieder ein Thema. Jüdinnen und Juden haben Angst. Antisemitismus findet sich in allen Ländern und allen Bevölkerungssichten, auch in Deutschland. Das ist entsetzlich“, sagte Bürgermeister Jörg Bierwirth bei der Feierstunde, die in dem einstigen Wohn- und Geschäftshaus der Familie Bachrach, in dem heute der Kunstverein beheimatet ist, veranstaltet wurde. „Ich selbst habe gerade jetzt in diesen acht Wochen des Krieges in sehr vielen Gesprächsrunden viel Antisemitismus erlebt“, berichtete Matitjahu Kellig, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Herford-Detmold, in seiner Rede. Umso wichtiger seien Aktionen wie diese.
Auch Jörg Düning-Gast, Verbandsvorsteher des Landesverbandes Lippe, erklärte, wie wichtig das Erinnern ist: „Auch wenn wir damals nicht persönlich beteiligt waren, haben wir heute noch eine Verantwortung.“ Die Verantwortung, die Erinnerung wachzuhalten und mit gutem Beispiel voranzugehen und den Mund gegenüber Unrecht aufzumachen.