Detmold. Es war ein langer Tag für Hedy Bohm. Am Morgen hat sie im Gerichtssaal ihre Erlebnisse im Block C von Auschwitz geschildert, den Angeklagten vergeblich gebeten, sie anzuschauen, nachmittags dem britischen Sender BBC und anderen Medien Interviews gegeben. Dennoch findet die 87-Jährige die Kraft, abends im Haus Münsterberg noch einmal alles zu wiederholen.
„Woher nehmen Sie diese Kraft?" Das wird gegen Ende des Vortrags Gastgeberin Micheline Prüter-Müller von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit fragen. Gemeinsam mit der Initiative gegen das Vergessen hat die Vorsitzende den Abend organisiert. Der Saal ist voll, selbst im Vorraum drängen sich die Menschen, während Hedy Bohm, eine zierliche alte Dame in farbenfroher Jacke, auf dem Holzstuhl sitzt, flankiert von Tochter Vicky und Abel Deuring, der übersetzen wird.
„Ich musste kommen und meine Geschichte erzählen", wird sie antworten. Gebeten, im Land der Schoah auszusagen, sei ihr erster Gedanke gewesen: „Auf keinen Fall." „Aber um der Zukunft und der nachfolgenden Generation willen muss ich es tun." Das Problem sei nicht gewesen, die Geschichte immer wieder vorzulesen, so erzählt sie später der LZ, sondern überhaupt erst die Worte zu finden.
Als sie den Schnellhefter an diesem Abend zur Hand nimmt und all die Worte vorliest, klingt sie ruhig und gefasst. Gleichwohl scheint es, als sei sie dankbar für die Atempausen während der deutschen Übersetzung. Nur einmal beginnt ihre Stimme zu zittern, als sie berichtet, wie sie von ihren Eltern getrennt wurde: „Ich schrie nach meiner Mama. Sie hörte mich, drehte sich um und sah mich an. Die Zeit blieb stehen. Ich weiß nicht, ob es nur ein Augenblick oder eine Minute war. Ich sah sie an. Ihr Blick traf meinen. Dann drehte sie sich wortlos um und ging weiter. Ich war entgeistert und fassungslos. Es war mir unbegreiflich. Ich war völlig allein unter Fremden, zum ersten Mal in meinem Leben. Ich stand unter Schock. So sehr ich mich auch danach sehnte, meine Mutter wieder zu sehen, es war mir nicht vergönnt."
Die eindringliche Schilderung kommt an: Es ist totenstill im Münsterberghaus. „So ist das immer, wenn ich berichte", sagt sie am Ende des Abends im Gespräch mit der LZ. Denn sie erzählt es immer und immer wieder.
Erst vor zehn Jahren hat sie begonnen, von Auschwitz zu erzählen. Dann erwähnt sie auch, dass sie nichts gewusst hat von den Vergasungen. „Ich glaube, das nicht zu sehen, war mein Weg, zu überleben. Davon haben mir meine Tante und meine Cousinen erst am Tag nach unserer Befreiung am 8. April 1945 erzählt." Eine der Cousinen lebt heute in Israel und ist frisch an Alzheimer erkrankt, Hedy Bohm hat vor kurzem mit ihr telefoniert. Das Grauen hat die Base im Griff: „Sie redet nur noch von Auschwitz."
Dreimal ist Hedy Bohm zurückgekehrt in das Lager. Das erzählt sie der LZ spätabends nach dem Vortrag, getragen von der Erleichterung über den überstandenen Tag. Sie habe am 8. April 2010 mit Tausenden Menschen am Marsch der Überlebenden und der Feier zum Gedenken an die Holocaust-Opfer teilgenommen.
„Es war der Jahrestag meiner Befreiung. Ich habe auf dem Podium eine Kerze angezündet. Ich stand da und schaute auf all die Menschen, und im Hintergrund konnte ich Block C sehen. Ich habe nur gedacht: Was für eine Gnade. Ich habe überlebt."
„Ich weiß, wie schlimm es für sie ist"
Nicht nur die Zeitzeugen sind Opfer. Auch die Kinder tragen ein Stück der Last mit – wie Hedy Bohms Tochter

Sie sind zu zweit nach Detmold gekommen: Vor Gericht und beim Vortrag im Haus Münsterberg ist Tochter Vicky nie von Hedy Bohms Seite gewichen. Wie fühlt es sich für sie an, dass die Mutter eine solche Last mit sich herumträgt?
„Unsere Eltern haben uns sehr behütet, als Kinder wussten wir nichts von Auschwitz", erzählt die Lehrerin, die lange im Schuhgeschäft ihrer Eltern gearbeitet hat. Wann genau sie vom Schicksal ihrer Mutter erfahren hat, wisse sie nicht – jedoch erst, als sie alt genug war, es zu verstehen.
Allerdings habe sie sich schon immer gewundert, dass es so gar keine Verwandten, keine Großeltern gab: „Wir konnten nie jemanden besuchen, wie andere Kinder es taten." Freunde, die ebenfalls vom Trauma Auschwitz betroffen waren, wurden zur Ersatzfamilie. Ihr Bruder erfuhr es viel früher als sie selbst: „Er war erst zwölf, als mein Vater es ihm erzählt hat", berichtet sie der LZ. Allerdings in einer Grenzsituation: „Mein Vater und mein Bruder waren zum Eisangeln gefahren und sind in einen Blizzard geraten. Es war keine Hilfe in Sicht, und mein Vater dachte, die beiden würden nicht überleben. In der Nacht hat er es meinem Bruder erzählt."
Seit sich Hedy Bohm entschieden hat, öffentlich über Auschwitz zu reden, unterstützt die Tochter sie. Zig Mal schon hat Vicky dieselbe Geschichte gehört. „Es ist für mich immer noch schlimm, wenn sie über die Trennung von ihrer Mutter spricht. Denn ich weiß, wie schlimm es für sie sein muss."