Der Menschenzoo in der Senne - Stalag 326

Schloß Holte-Stukenbrock/Gütersloh. Beim Stichwort Senne kommen meist eher Truppenübungsplatz oder Nationalpark-Ideen in den Sinn als Stalag 326. Das Stammlager in Stukenbrock war jedoch das größte Lager für sowjetische Kriegsgefangene, 300.000 Menschen wurden dort ab 1941 gefangen gehalten, 65.000 gingen zugrunde, liegen in Massengräbern. Anlässlich der Befreiung von Stalag 326 durch amerikanische Soldaten vor 70 Jahren, am 2. April 1945, moderierte Michael Köhler für die WDR-3-Radioreihe "Forum" im Kreishaus eine Gesprächsrunde über Gedenk- und Erinnerungskultur. "Ein Menschenzoo in der Senne. Sowjetische Kriegsgefangene als Opfer des Nationalsozialismus", lautete nach einem ZDF-Film des neuen stellvertretendem Arte-Programmchefs Bernd Mütter das Thema. Damals müsse die Existenz des Lagers in der Gegend bekannt gewesen sein, die Märsche neuer Insassen vom Bahnhof zum Lager seien "für alle zu sehen und zu spüren gewesen", sagte der aus Ostwestfalen stammende Mütter. "Es gab keinen Fleck auf der Karte des Reiches, auf dem es kein Lager gegeben hat", erklärte Prof. Dr. Volkhard Knigge, aus Bielefeld stammender Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Weimar. Doch sie seien heute zu wenig bekannt. "Die vergessenen Opfer, die vergessenen Orte", so Dr. Jörg Morré, Leiter des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst. Auch in der Sowjetunion sind dem russischen Botschaftssekretär Wladimir Kukin zufolge während des Kalten Krieges diese Lager und die insgesamt 3.500 Kriegsgräberstätten mit 700.000 Toten in Deutschland vergessen gewesen. Erst die politische Wende in Osteuropa Ende der 80er Jahre habe auch das Gedenken vor Ort ermöglicht. Inzwischen sei der Stukenbrocker Ehrenfriedhof in Russland geradezu zum Inbegriff für dieses Erinnerungswesen geworden. So sieht Oliver Nickel, der als Geschäftsführer des Fördevereins der Dokumentationsstätte Stalag 326 diese "auf einem ziemlich guten Weg". "Unsere Hauptaufgabe besteht heute darin, die Verstorbenen mit Hilfe von Personalkarten, die oft aus russischen Archiven zur Verfügung gestellt werden, zu identifizieren. Bisher ist das bei 15.000 Toten gelungen. Wir haben bestimmt jeden Monat 10 bis 15 Anfragen." Diese Identifizierung für das Gedenken ist auch Kukins größter Wunsch. Damit könne auch der jüngeren Generation besser vor Augen geführt werden, "keinen neuen Krieg zuzulassen", sagte der Diplomat, worauf die rund 80 Zuhörer mit Beifall reagierten. Aber weshalb werden solche Gedenkstätten allgemein weniger wahrgenommen als die Konzentrationslager? Der Fokus sei nunmal ganz auf den Holocaust gerichtet, doch der sei "nicht das einzige Verbrechen" der Nationalsozialisten gewesen, erklärte Prof. Knigge. Er sprach von einem "Mainstream" des Gedenkens, das sich anderen Opfern verweigere. "Man muss immer auch das Erinnern mit erinnern", fasste Köhler das Anliegen zusammen, beim Gedenken auch dessen zeitbedingte Entwicklung mit zu bedenken. Knigge forderte daher, die Dokumentationsstätte solle auch weiter ein "Lernort" sein, ein Platz für "politisches, historisches, ethisches Lernen." Es müsse den "Opfern ein Gesicht" gegeben und die "Täterperspektive" dargestellt werden, ergänzte Bernd Mütter. Und für Kirsten John-Stucke, Leiterin des Kreismuseums Wewelsburg, gilt: "Die Frage nach dem Warum steht immer im Mittelpunkt des Ganzen." Die aufgezeichnete Podiumsdiskussion wird demnächst in der Reihe WDR 3 Forum gesendet. Am 6. Mai wird Bundespräsident Joachim Gauck die Dokumentationsstätte Stalag 326 besuchen.

Lippische Landes-Zeitung: Nachrichten aus Lippe, OWL und der Welt

Weiterlesen mit LZplus

0,99 € im ersten Monat

Angebot: Jahresabo nur 99 €

Weiterlesen mit LZplus