Essen. Mit einem Strahlen gehen die Verlage ins Weihnachtsgeschäft: Denn Brett- und Kartenspiele boomen weiter. Und das im vierten Jahr in Folge. Bis zum August legte der Umsatz laut NPD Eurotoys um 16 Prozent zu, bei Familienspielen sogar um 33 Prozent. Bis zum Jahresende könnten so in Deutschland mehr als 50 Millionen Spiele verkauft werden. Welche, das zeigt ab heute die Spiel 18 in Essen. Zur weltgrößten Messe für Brett- und Kartenspiele werden bis Sonntag 180.000 Spielbegeisterte erwartet.
„Brettspiele sind eine Insel des Haptischen, auf der man ein Gegenüber hat", erklärt Heiko Windfelder. Der Programmleiter Spielware beim Stuttgarter Kosmos-Verlag sieht Brettspiele mittlerweile als ein starkes Gegengewicht zur digitalen Welt. „Man sitzt mit anderen Menschen zusammen, und die Spieler werden wieder jünger. Es kommt etwas nach", stellt Windfelder zufrieden fest. Sein Verlag hat mit den „Exit"-Spielen, bei denen es um das Entkommen aus einem Raum geht, weiterhin einen Umsatzbringer im Programm. „Wir wachsen wohl das dritte Jahr in Folge", berichtet Windfelder.
Spieletipps der Redaktion
Vom Boom wollen viele etwas abhaben, die Internationalisierung nimmt weiter zu. Zwar sind die deutschsprachigen Länder der wichtigste Brettspielmarkt der Welt, doch es gibt kaum noch Spiele mit deutschem Titel. Entweder sie sind englisch oder einigermaßen neutral. Der kanadische Verlag Plan-B-Games übernahm vor einem Jahr die Hamburger Spieleschmiede Eggertspiele und errang 2018 mit dem Spiel des Jahres und dem Deutschen Spielepreis die beiden wichtigsten Auszeichnungen mit ihrem Spiel „Azul". Plan B verkaufte bereits vor der Prämierung weltweit 300.000 Exemplare von dem Fliesenlegespiel im portugiesischen Mittelalter.
Diese Internationalität kann man als Bedrohung sehen – oder als Bereicherung. Der Berliner Zweimann-Verlag Frosted Games sieht sie als Chance: „Als ich unser Spiel Reykholt im Netz angekündigt habe, bekam ich sehr schnell Anfragen von vielen Verlagen für eine Lizenz", sagt Matthias Nagy, Chef des Unternehmens. Die Neuheit erscheint nun in gleich neun Sprachen, darunter Russisch und Koreanisch, und zudem auch in Japan und Brasilien.
Hauptgrund für die Nachfrage bei „Reykholt" (etwa 50 Euro) ist der Gütersloher Autor Uwe Rosenberg. Der ist in der Spieleszene eine umworbene Größe und kann sich auch an ungewöhnliche Themen trauen. In „Reykholt" thematisiert er den Gemüseanbau in Island, der dort dank thermischer Quellen floriert. Ergebnis: Busladungen von Touristen kommen in den Mini-Ort, und all das packt Rosenberg in ein einstündiges Brettspiel für erfahrene Zocker. Startauflage: insgesamt 30.000 Exemplare. Da würde sogar Ravensburger schwach.
Deutschlands Branchenriese setzt auf Technik und packt für sein Quiz „kNOW!" gleich das Maschinchen „Google Home Mini" mit in den Karton (etwa 50 Euro). Das nennt nämlich per Spracherkennung die richtige Lösung zu Quizfragen, deren Antworten sich immerzu ändern. Beispiel: „Wann geht morgen die Sonne auf?" Auch bei anderen Neuheiten verschmelzen Brettspiel und moderne Anwendungen. Bei „Chronicles of Crime" (Corax, etwa 50 Euro) kreiert eine App mit den Komponenten des Brettspieles nicht nur immer neue Kriminalfälle. Eine VR-Brille sorgt auch dafür, dass die Spieler noch tiefer in die Story eintauchen können.
Weil es auch bei der Konfektionierung der Spiele Fortschritte gibt, entstehen weitere neue Ideen. Bei „Discover – Zu unentdeckten Landen" (Fantasy Flight Games/Asmodee, etwa 60 Euro) bewegen sich alle durch zunächst unbekanntes Gelände, das erst während des Spieles aufgedeckt wird. Der Clou ist, dass kein Karton der „Unique Games" identisches Material enthält. So ist es möglich, mit zwei dieser Spiele völlig andere Geschichten und Partien in sehr unterschiedlichen Landschaften zu erleben.
„Spielethemen werden immer erwachsener", betont Robin de Cleur, Pressesprecher bei Asmodee, immer wieder. So hat sein Verlag das kooperative „Holding On" (Hub Games, 40 Euro) im Programm, bei dem die Spieler als Palliativteam in einem Krankenhaus in zehn Episoden den Patienten Billy Kerr betreuen. Sie müssen auf medizinische Notfälle reagieren, das Vertrauen Kerrs gewinnen und erfahren so etwas über seine Lebenserinnerungen.
Spiele können 2018 spannend und sehr ernsthaft zugleich sein. Die meisten Neuheiten gibt es ab Anfang November im Handel. Alternativ lohnt sich ein Tagesausflug nach Essen. Denn dort gibt es an allen Verlagsständen kostenlose Demo-Runden und Erklärer, die das Lesen der Spielregel überflüssig machen. Und bei Gefallen können die meisten der 1.400 Neuheiten gleich vor Ort gekauft werden. Ob der Boom wirklich hält, weiß man aber erst im Januar: „Ich rechne letztlich mit einem Plus von fünf bis zehn Prozent", sagt Hermann Hutter, Sprecher des Spieleverlage e.V. Denn immer noch wird fast die Hälfte des Jahresumsatzes bei Brettspielen vor Weihnachten gemacht.