Corona-Einschränkungen: Experten befürchten mehr Krebstote

Berlin/Detmold. Die Corona-Pandemie hat die Behandlung anderer Erkrankungen weltweit in den Hintergrund gerückt. Mit fatalen Folgen, wie die gestiegene Zahl an Todesopfern durch Herzinfarkte oder Schlaganfälle auch in Deutschland zeigt. Experten befürchten ähnliche Folgen aufgrund verspäteter Diagnosen und verschobener Behandlungen auch für Krebspatienten, wenn sich das Infektionsgeschehen in Deutschland nicht beruhigt. In Großbritannien und Frankreich zeigen erste Studien, dass Tausende zusätzliche Krebstote erwartet werden. Doch drohen diese Szenarien auch in Deutschland?

Das ist unklar, sagen Onkologen einstimmig. Doch mit Blick auf die großen Belastungen im deutschen Gesundheitssystem durch die vielen, mitunter schwer kranken Covid-19-Patienten, wächst die Sorge vor erneuten Einschränkungen in der onkologischen Versorgung. Bereits im April warnten Onkologen davor, dass sich &bdquo;eine Bugwelle an zu spät diagnostizierten Krebsfällen aufbaut". Diese eindringliche Warnung gilt auch aktuell.

Bis Juli mussten in Deutschland 50.000 Krebsoperationen verschoben werden Mit der zweiten Welle der Pandemie stehe der klinische Betrieb in vielen Krankenhäusern erneut vor den gleichen Herausforderungen wie im Frühjahr, sagt der Vorstandsvorsitzende des deutschen Krebsforschungszentrums, Michael Baumann. &bdquo;Intensivbetten müssen für Covid-19-Patienten freigehalten werden, durch Infektionen oder Quarantäne ist vielerorts die Personaldecke ausgedünnt und die Hygieneregeln schränken den Zugang zu Kliniken und Ambulanzen ein."

Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krebshilfe, Gerd Nettekoven, plädiert deshalb für eine Sicherstellung der adäquaten Versorgung von Krebspatienten. &bdquo;Die erste Welle der Pandemie hatte das onkologische Versorgungssystem in Deutschland bereits deutlich beeinträchtigt." Allein bis Juli mussten in Deutschland während der Pandemie laut der Deutschen Krebshilfe 50.000 Krebsoperationen verschoben werden. Hinzu kamen Zehntausende verschobene Maßnahmen zur Früherkennung, Diagnose, Therapie und Nachsorge. Zeitweise wurde zum Beispiel das Mammographie-Screening ausgesetzt.

&bdquo;Wir machen uns Sorgen, dass Krebspatienten vernachlässigt werden" &bdquo;In Anbetracht der jetzt erheblich höheren Neuinfektionen, machen wir uns umso mehr Sorgen, dass notwendige und übliche Versorgung nur erheblich eingeschränkt stattfinden wird und Krebspatienten vernachlässigt werden", ergänzt Nettekoven. Die große Sorge der Experten ist, dass die Verschiebungen von Behandlungen nicht in allen Fällen auch medizinisch vertretbar sind.

Denn das kann für Betroffene fatale Folgen haben, wie eine Untersuchung des kanadischen Onkologen Timothy Hanna des Ontario Institute for Cancer Research zeigt. Das Team um Hanna ist in einer Untersuchung der Frage nachgegangen, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Verzögern einer Krebsbehandlung und der Sterblichkeit der betroffenen Patienten gibt.

Studie: Verzögerung einer Krebsbehandlung erhöht Sterblichkeit Dazu haben sie 34 Studien mit Daten von über 1,2 Millionen Patienten ausgewertet, die an Tumoren an der Blase, der Brust, dem Dick- und Mastdarm, dem Gebärmutterhals oder an Kopf und Hals erkrankt waren. Ihr Fazit: Verzögerungen bei Therapien wie Operationen, Bestrahlung oder Chemotherapie haben erhebliche Auswirkungen auf die Sterblichkeit von Krebspatienten.

Bereits bei einer vierwöchigen Verzögerung einer Krebsbehandlung lasse sich eine erheblich erhöhte Sterblichkeit statistisch nachweisen. Das Sterberisiko erhöht sich – abhängig von Krebs und Art der Therapie – laut der Studienautoren um sechs bis dreizehn Prozent. Je länger die Wartezeit wird, desto mehr steigt das Sterberisiko: &bdquo;Ein Aufschub von acht Wochen bei Brustkrebs würde das Sterberisiko um 17 Prozent und von zwölf Wochen um 26 Prozent erhöhen."

&bdquo;Steigt die Zahl der Covid-19-Patienten, drohen Einschränkungen" Die Studie bestätigt die Aussagen der deutschen Krebs-Fachgesellschaften, dass Therapieverzögerungen lebensverkürzende Folgen für Betroffene haben können. &bdquo;Damit es nicht dazu kommt, muss sich das Infektionsgeschehen in Deutschland beruhigen. Die Zahl der Covid-19-Patienten darf in den Krankenhäusern nicht weiter so stark steigen, da ansonsten Einschränkungen in der onkologischen Versorgung drohen", erklärt der Chefarzt der Klinik für Onkologie des Klinikums Lippe, Frank Hartmann.

Aktuell ist die Versorgung von Krebs-Patienten in OWL nach Einschätzung Hartmanns jedoch sichergestellt. &bdquo;Auch während der ersten Welle gab es im Vergleich zu anderen Regionen in Deutschland und weiteren europäischen Ländern keine relevanten Engpässe bei Operationen, Chemotherapie oder Bestrahlung." Verschiebungen seien nur im geringen Ausmaß nötig gewesen.

Patienten sagen aus Angst vor dem Coronavirus auch selbst Termine ab Allerdings beobachten Hartmann und auch weitere Onkologen aus OWL einen Rückgang der Patientenzahlen. Zudem melden Krankenhäuser bundesweit, auch in der Region, dass die Zahl der Patienten mit frühen Tumorstadien sinkt, jedoch vermehrt Patienten mit sehr fortgeschrittenen Tumorstadien kommen. &bdquo;Es gab offenbar eine kurze Versorgungslücke im März und April. Das passt zu Studien, die belegen, dass zu Beginn der Pandemie die grundsätzliche medizinische Versorgung in Deutschland etwas schlechter war", erklärt der Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie des Klinikums Bielefeld, Marcel Binnebösel, bereits im Juli.

Auch im ambulanten Bereich herrscht offenbar große Verunsicherung bei Patienten, wie das Beispiel Mammographie-Screening zeigt. Aktuell folgen nach Angaben von Ärztin Ulrike Meyer-Johann, die das Programm für die Region Bielefeld-Gütersloh leitet, lediglich 50 Prozent der Frauen der Einladung zum Screening.

Mediziner warnen Patienten vor Terminabsagen Nach Einschätzung der Mediziner sagen Patienten Termine ab, weil sie Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus haben. &bdquo;Die Gefahren durch eine mögliche Infektion mit dem Virus sind jedoch deutlich geringer als die Gefahren durch eine unbehandelte oder verspätete Krebsbehandlung", warnt Hartmann. Deshalb appelliert der Mediziner an alle Patienten, Termine zur Früherkennung, Diagnose, Therapie und Nachsorge wahrzunehmen. Auch unspezifische Symptome bei gesunden Menschen sollten unbedingt abgeklärt werden. &bdquo;In Kliniken und Praxen herrscht mittlerweile Routine im Umgang mit dem Coronavirus, auch beim Schutz vulnerabler Patienten."

Und selbst wenn sich Krebspatienten infizieren, hat das laut Hartmann nicht automatisch einen schweren Krankheitsverlauf zur Folge. &bdquo;Die Erfahrungen der vergangenen Monate zeigen zwar, dass Krebspatienten ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe bei Covid-19 haben, aber dieses Risiko lange nicht so hoch ist wie befürchtet."

Doch ob die Zurückhaltung vieler Patienten oder die Verschiebung von Behandlungen tatsächlich auch zu einem Anstieg der Krebstoten in Deutschland führen werden, lässt sich nach Einschätzung Hartmanns erst in den nächsten Jahren seriös beantworten können. &bdquo;Das hängt noch von vielen weiteren Faktoren ab."

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