Wie werden Menschen zu Sexualstraftätern?

Bielefeld. Lügde, Münster, Bergisch Gladbach - die Missbrauchskomplexe in NRW haben ganz Deutschland schockiert. Sexuelle Gewalt an Kindern stand noch mehr im Fokus. Doch warum werden Menschen überhaupt zu Sexualstraftätern?

Sexuelle Gewalt betrifft nicht nur Kinder - auch wenn die Taten an den Jüngsten der Gesellschaft am meisten entsetzen. Jeder könnte Opfer werden. Frauen. Männer. Alte. Junge. Nahlah Saimeh ist forensische Psychiaterin. Sie hat es täglich mit Straftätern zu tun. Mit jenen, die psychisch krank sind. Und mit jenen, die völlig gesund sind. Saimeh muss für ihre Gutachten feststellen: Ist der angeklagte Straftäter schuldfähig? Oder sorgt eine psychische Erkrankung dafür, dass er schuldunfähig ist? Das spielt in der Justiz eine große Rolle, zum Beispiel bei der Unterbringung nach dem Urteil.

Saimeh kennt sich aus, sie hat häufig in menschliche Abgründe geblickt. Mörder. Vergewaltiger. Gewalttäter. "Sexualstraftäter sind eine extrem heterogene Gruppe", sagt die Expertin. Sie unterscheidet bei den Delikten.

"Hands on" und "Hands off" Da wären die sogenannten "Hands off"-Delikte. "Sexuelle Straftaten, bei denen niemand angefasst wird", erläutert Saimeh. Zum Beispiel ein Exhibitionist, der durch das Zeigen seiner Geschlechtsteile in der Öffentlichkeit in die sexuelle Selbstbestimmung von seinen Opfern eingreift. Genau diese Selbstbestimmung wird im Sexualstrafrecht geschützt. "Es geht nicht um Moral", sagt Saimeh. "Deswegen ist der Exhibitionist auch ein Straftäter. Weil er insofern die sexuelle Selbstbestimmung eines Anderen dadurch untergräbt, dass er fremde Menschen ungebeten mit seiner eigenen Sexualität konfrontiert." Auf der anderen Seite wäre da "Hands on-Delikte" - also Taten, bei denen es zu Berührungen oder mehr kommt.

Saimeh unterscheidet im Gespräch klar zwischen ganz unterschiedlichen Stufen der Gewalttätigkeit und Grausamkeit. Sie unterscheidet "Hands on-Delike" von "Hands-off-Delikten": "Was das Schädigungspotenzial angeht, ist Exhibitionismus schon anders als wenn ein Stiefvater zu Hause das Kind missbraucht." Am Exhibitionisten könne man vorbei gehen. "Und der zeigt einem ja auch nichts Neues", so Saimeh nüchtern. "Aber ein Kind, das zu Hause missbraucht wird, muss ja immer wieder in die peinigende Örtlichkeit zurückkehren. Das ist schlimm."

Enormes Traumatisierungspotenzial Saimeh berichtet: "Man denke zum Beispiel an Vergewaltigungen, wenn der Täter in den privaten Raum einer fremden Person eindringt." Zum Beispiel nachts durch ein offen stehendes Fenster ins Haus. "Dabei gibt es ein enormes Traumatisierungspotenzial. In welcher Form ist aber abhängig von der Resilienz des Opfers", sagt Saimeh. Generell: "Es gibt sexuelle Übergriffe, die massiv die persönliche Integrität verletzen und langfristig Folgeschäden setzen können", sagt Saimeh. Das betreffe Frauen, Kinder - und zum Teil auch Männer.

Die Ursachen für die Straftaten sind verschieden, sagt Saimeh. Auf der einen Seite gibt es die in der Fachsprache sogenannten paraphil motivierten Sexualstraftaten. Also, wenn der Täter eine Neigung hat, die deutlich von der Norm abweicht. Zum Beispiel Pädophilie. "Es gibt aber auch Täter, die Kinder missbrauchen, weil sie rücksichtslose, egozentrische Menschen sind. Und Kinder wegen ihrer körperlichen Unterlegenheit als einfachstes Ziel sehen, wenn der Wunsch nach Sex besteht", erklärt Saimeh. Ermittler sprechen von Ersatzhandlungstätern. Studien zeigen, dass der Anteil von tatsächlich pädophilen Straftätern bei Kindesmissbrauch nur bei etwas mehr als 50 Prozent liegt.

"Den einen" Täter gibt es nicht Eine andere Gruppe sind Täter, die aus der Situation heraus oder aus einer günstig erscheinenden Gelegenheit heraus handeln. "Zum Beispiel betrunken, nach einer Party - wenn sich die einer Person mehr von dem Abend erhofft, als die andere. Und der Täter eine herabgesetzte Hemmschwelle hat und seine Erwartung an die Nacht umsetzen will", erklärt Saimeh. "Diese Personen sind meistens nicht paraphil oder psychisch auffällig."

!function(){"use strict";window.addEventListener("message",(function(e){if(void 0!==e.data["datawrapper-height"]){var t=document.querySelectorAll("iframe");for(var a in e.data["datawrapper-height"])for(var r=0;r Ja, das Thema ist komplex und vielschichtig. "Den einen" Sexualstraftäter gibt es nicht. So, wie es auch "den einen" Mörder nicht gibt. Doch was macht die Menschen nun zu Vergewaltigern, Exhibitionisten oder anderen sexuellen Straftätern? Laut Saimeh gibt es durchaus Faktoren und Eigenschaften, die die Chance erhöhen, dass jemand zum Sexualstraftäter wird. Da wäre etwa eine antisoziale Grundeinstellung: "Eine Einstellung, wonach das Recht des Täters absolute Gültigkeit hat." Oder die mangelhafte Mentalisierungfähigkeit von Emotionen: "Viele sexuelle Straftaten entstehen frustbedingt - ein Ventil zum Beispiel für Wut und Abweisung." Oder Impulsivität. Rauschmittelkonsum. Auch klassische Geschlechtsrollen-Stereotype durch eine pornografisierte Ideologie ("Die Frau hat immer zu wollen"). Oder aber kognitive Verzerrungen.

Welche Rolle spielen eigene Missbrauchserfahrungen? Hinzu kommen paraphile Neigungen. Wie Pädophilie. "Viele, aber nicht alle, Pädophile haben in ihrer Vergangenheit selbst sexuelle Gewalt erlebt, wurden missbraucht", sagt Saimeh. Es gebe aus wissenschaftlicher Sicht also "offenbar" Zusammenhänge, so die forensische Psychiaterin: "Sexueller Missbrauch kann die eigene sexuelle Entwicklung und Neigung massiv beeinträchtigen." Dass jedoch ausschließlich Männer solche Neigungen entwickeln - ein Mythos. "Wir wissen, dass auch Frauen Kinder missbrauchen - in den meisten Fällen, weil sie selbst in ihrer Vergangenheit ähnliches erlebt haben", berichtet Saimeh. "Die Dunkelziffer ist sehr hoch."

Generell: "Das wird aber nie die Quote erreichen, wie bei männlichen Sexualstraftätern." Einer der Gründe ist biologischer Art. "Im männlichen Gehirn gibt es meines Wissens eine engere Verschaltung der Zentren für Aggression und Sexualität", sagt Saimeh.

Es gibt auch andere Ansätze Insgesamt sei es aber zu kurz gegriffen, Pädophilie oder sexuellen Missbrauch an Kindern mit erlebtem Missbrauch zu erklären, sagt Saimeh. Manche Pädophile entwickeln diese Neigung schon früh. "Etwa in der Pubertät - und das ohne jemals selber sexuell missbraucht worden zu sein", so die Expertin. "Man weiß bei diesen Personen nicht wirklich, woher das kommt."

Dass diese Eigenschaften oder Neigungen direkt darauf hinweisen, ein Täter könne vermindert schuldfähig oder sogar schuldunfähig sein, sei keineswegs der Fall, sagt Saimeh. "Eine psychische Störung mit forensischer Relevanz zeigt sich immer auch jenseits des Tatzeitpunktes." Und beziehe sich nicht nur auf die sexuellen Neigungen. "Die Frage ist immer: Hätte der Täter es auch lassen können?" Saimeh nennt ein Beispiel: "Ein Mann, der seine Mutter im Wahn tötet, weil er denkt, von ihr vergiftet zu werden und denkt, sterben zu müssen - der kann nicht anders." Ein Sexualstraftäter dagegen häufig schon.

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