Trotz Aushilfen: Auffällig viele Blitzer- und Unfallverfahren verjähren in Bielefeld

Bielefeld . Die Kommunen in OWL haben in Sachen Verkehrsüberwachung längst aufgerüstet. Halbstationäre Lasergeräte – sogenannte Anhänger-Blitzer – sind flexibel einsetzbar und verhindern so einen Gewöhnungseffekt. Bielefeld allein hat seit 2023 drei von den &bdquo;Semi-Stationen“ erworben und setzt sie dauerhaft ein. Im vergangenen Jahr erfassten die drei Anhänger mehr als 61.000 der insgesamt 117.000 Tempoverstöße in der Stadt. Auch in den Kreisen Herford, Gütersloh und Minden-Lübbecke haben die Geräte reichlich zu tun und machen damit auch viel Arbeit.

So auch bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld: Seit einigen Monaten fällt dort auf, dass viele der Verstöße gar nicht mehr bestraft werden. Dabei handelt es sich um Bußgelder, gegen die die beschuldigten Autofahrer Einspruch erhoben haben. Diese Vorgänge werden vom Ordnungsamt an die Staatsanwaltschaft übergeben, doch dort bleiben die Akten offenkundig zu lange liegen. Nach sechs Monaten sind diese Ordnungswidrigkeiten-Verfahren verjährt.

Auf einen Einspruch folgt oft die Einstellung

Anwälte im Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft (dazu gehören neben Bielefeld auch die Kreise Gütersloh, Herford und Minden-Lübbecke) raten ihren Mandanten inzwischen, obligatorisch Einspruch zu erheben. Die Wahrscheinlichkeit, dass danach gar nichts mehr passiert, sei sehr hoch, sagen sie.

Auch der Bielefelder Verkehrsrechtsfachanwalt Mirko Roßkamp rät seinen Mandanten inzwischen zum Einspruch. Denn auch bei dem ADAC-Vertragsanwalt seien Bußgeld-Verfahren &bdquo;in relativ großer Menge in den vergangenen sechs bis neun Monaten“ bei der Anklagebehörde verjährt. &bdquo;Und das habe nicht nur ich festgestellt, sondern auch die Kollegen. Wir hatten uns darüber ausgetauscht, weil es so auffällig war.“ Aus anderen Gerichtsbezirken in NRW und darüber hinaus kenne er das so bisher nicht.

Philipp Kalbertodt, Sprecher der Bielefelder Staatsanwaltschaft, &bdquo;kann nicht ausschließen, dass diese Frist zuletzt nicht stets eingehalten werden konnte und dies zu Verfahrenseinstellungen“ wegen Verjährung geführt habe. Eine Größenordnung sei aber noch nicht zu nennen: &bdquo;Die Prüfungen dauern an“, sagt Kalbertodt.

Drohende Fahrverbote verjähren kaum Zwar scheuen viele Autofahrer ein möglicherweise teures Gerichtsverfahren, doch der Einspruch lasse sich wieder zurückziehen, sollte es doch vor Gericht weitergehen, erklärt Roßkamp. Er spricht von einer &bdquo;messbaren Wahrscheinlichkeit, dass es gar nicht zum Verfahren kommt.“ Die Mandanten freuen sich. Einzige Ausnahme: Verfahren, bei denen ein Fahrverbot droht, finden sich unter den verjährten Verfahren fast nicht, heißt es von verschiedenen Anwälten. Werden hier – je nach Tatvorwurf – Prioritäten gesetzt? &bdquo;Selbstverständlich nicht“, sagt Kalbertodt. Ihm zufolge werden aber Ordnungswidrigkeiten-Verfahren, die von einer Verjährung bedroht sind, als &bdquo;eilbedürftig“ eingestuft und können dann gesondert bearbeitet werden.

Tatsächlich hakt es nach Ansicht von Experten beim Akteneingang. Normalerweise übergeben Stadt und Polizei ihre Vorgänge der Staatsanwaltschaft, wo diese in der Geschäftsstelle eingetragen werden und ein Aktenzeichen bekommen. Dann landen sie theoretisch beim Dezernenten (Amtsanwalt oder Staatsanwalt), der die Akten nach seiner Prüfung mit seinen Anordnungen an die Sachbearbeiter weiterleitet. Doch so weit kommt es in diesen Fällen gar nicht. Schon beim ersten Schritt in der Geschäftsstelle scheint es zu hapern.

Elf Stellen sollen in Behörde unbesetzt sein Kein Wunder: In der Geschäftsstelle der Staatsanwaltschaft Bielefeld sollen aktuell elf dringend benötigte Stellen unbesetzt sein, heißt es aus Justizkreisen. Die für diese Stellen zuständige Generalstaatsanwaltschaft in Hamm differenziert: Das vom Justizministerium zugewiesene Stellenkontingent in Bielefeld &bdquo;ist derzeit vollständig besetzt“, sagt Sprecher Elmar Pleus. Dabei handelt es sich um 98 Vollzeit-Äquivalente. &bdquo;Aufgrund des akut bestehenden Mehrbedarfs“ wurde der Bielefelder Behörde &bdquo;zur Entlastung der Servicekräfte im Juli die Möglichkeit gegeben, zusätzliche Erfassungskräfte einzustellen“, so Pleus. &bdquo;Diese Stellen sind auch teilweise bereits besetzt.“ Drei neue Kräfte sind bereits seit Mitte August tätig. Jeweils eine neue Kraft werden im September und Oktober folgen.

Auch die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Verjährungen &bdquo;nahezu ausschließlich der hohen Arbeitsbelastung“ in der Geschäftsstelle geschuldet sein dürften. 2024 werde voraussichtlich ein neuer Höchststand an Ermittlungsverfahren erreicht. Der bisher höchste Arbeitsaufwand lag 2022 bei 80.370 Verfahren. In der ersten Jahreshälfte 2024 waren es in Bielefeld bereits 48.502, so Kalbertodt.

Wochenendarbeit in Köln – und in Bielefeld? Die Folge: &bdquo;Die Akten türmen sich und bleiben teilweise zu lange liegen“, weiß auch Klaus Plattes, Vorsitzender der Deutschen Justizgewerkschaft (DJG) in NRW, von Rückmeldungen aus dem Haus. Das sei übrigens kein spezifisches Bielefelder Problem. Auch andere Staatsanwaltschaften leiden darunter, dass sie keinen geeigneten Nachwuchs kriegen.

2023 hatte man in Köln in einer ähnlichen Situation deshalb sogar Wochenendarbeit angeordnet, in Bielefeld wird darüber derzeit auch nachgedacht, heißt es. Angesichts der ohnehin überlasteten Rechtspfleger sei das sicherlich nicht als Dauerlösung geeignet: &bdquo;Wir sehen das kritisch, auch wenn wir das in Köln mitgetragen haben“, sagt Plattes.

Polizei macht es vor: Gewerkschaft kritisiert Justiz

Plattes weist auf eine offenkundige Diskrepanz hin: Während Innenminister Herbert Reul (CDU) für die Strafverfolgung bei der Polizei immer wieder neues Personal einstellt – zuletzt für die Cybercrime-Bekämpfung – gebe es in Justizministerium von Benjamin Limbach (Grüne) keine Aufstockung. Es sei enorm schwer, geeignetes Personal zu finden. Deshalb fordert der Gewerkschafter mehr Attraktivität (bessere Hardware-Ausstattung und mehr Flexibilität bei Homeoffice-Fragen).

Verkehrsexperte Roßkamp erinnert sich an die Einführung des Blitzers an der A2 am Bielefelder Berg. &bdquo;Damals musste die Stadt neues Personal zur Bearbeitung der vielen Fälle einstellen. Die Justiz ist damals wie heute nicht mitgezogen. Das war damals schnell spürbar.“ Mehr Überwachung führe zu mehr Fällen und folglich auch zu mehr Einspruchsverfahren.

Die Verjährungen betreffen übrigens nicht nur Tempoverstöße – und sie kommen auch nicht jedem entgegen. So seien spürbar oft auch Unfallverfahren betroffen, sagt der Bielefelder Anwalt Siegfried Kammel.

Nach Unfällen führen die Verzögerungen zu ernsten Problemen &bdquo;Nach schweren Unfällen haben die Mandanten oft ein nachvollziehbares Interesse, dass Versicherungen und Krankenkassen die anfallenden Kosten zeitnah übernehmen. Doch die Versicherungen brauchen bei Zweifeln die Ermittlungsakte. Die Akteneinsicht gewährt aber nur die Staatsanwaltschaft.“ Doch dort geht es nicht weiter.

Anwälte, die dann bei der Polizei nach dem Verfahren fragen, werden aktuell vertröstet. &bdquo;Inzwischen teilt uns die Polizei mit, dass mit einer Wartezeit von 2 bis 3 Monaten zu rechnen sei, bis das nötige Aktenzeichen vorliegt“, bestätigt auch Roßkamp. &bdquo;Wenn dann keine verzögernden Nachermittlungen dazukommen, kann es vier bis fünf Monate dauern, bis die Akteneinsicht möglich wird. Andernfalls dauert es noch länger“, sagt Kammel. &bdquo;Die Mandanten sind dann längst im Krankengeldbezug, haben Einkommenseinbußen, vielleicht sogar ernste finanzielle Sorgen.“

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