Kinderarzt-Suche in OWL – doch die offizielle Stelle bestreitet Mangel

Bielefeld/Dortmund. Kinder, die seit einem Jahr ohne Arzt sind, Säuglinge, die keine Vorsorge-Untersuchungen erhalten, Praxen, die pro Tag Dutzende verzweifelter Anfragen von Familien für eine Aufnahme ablehnen – der Kinderärztemangel in OWL ist für viele bittere Realität. Auf dem Papier sieht das allerdings ganz anders aus: Mit einem Versorgungsgrad, der in fast allen Kreisen der Region über 105 liegt, gibt es laut der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen Lippe (KVWL) in OWL nicht nur ausreichend, sondern sogar zu viele Kinderärzte. Doch wie kann das sein?

Grundlage für den Versorgungsgrad sind vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgelegte Verhältniszahlen. Sie bestimmen, wie viele Einwohner pro Arzt in einem Planungsbereich zu versorgen sind. Hinzu kommen Einflussfaktoren wie demografische Entwicklung, Geschlechterverteilung, das Verhältnis von Erkrankten im Verhältnis zu Gesunden. Das alles bildet die Grundlage für die Berechnung des Versorgungsgrades.

Ab einem Versorgungsgrad von 110 gilt ein Gebiet als überversorgt und wird für weitere Niederlassungen gesperrt. Für OWL bedeutet das: Die Kreise Gütersloh (111), der Kreis Paderborn (110,4) und der Kreis Herford (122,4) sind überversorgt, Bielefeld (106) der Kreis Lippe (101) und der Kreis Minden-Lübbecke (92,3) sind ausreichend versorgt und lediglich der Kreis Höxter mit 71,4 gilt offiziell als unterversorgt. Hier arbeiten aber auch nur noch sechs Kinderärzte.

Nicht mal sechs Minuten pro Patient in Bielefelder Praxis .responsive23-TuevAO4Zag1oQVcE-choro-kinderaerzte-in-owl-2024 { width: 100%; padding-top: 100%; } @media (max-width: 600px) { .responsive23-TuevAO4Zag1oQVcE-choro-kinderaerzte-in-owl-2024 { padding-top: 100%; } } @media (max-width: 360px) { .responsive23-TuevAO4Zag1oQVcE-choro-kinderaerzte-in-owl-2024 { padding-top: 142.86%; } } Rein rechnerisch heißt das: Westfalen-Lippe hat genug Versorgungsaufträge. Sie setzen sich zusammen aus besetzten Kassensitzen und Vollzeitäquivalenten. Von diesen Versorgungsaufträgen gibt es derzeit in Westfalen-Lippe 590,25 für Pädiater, die sich auf 719 Kinderärzte verteilen. &bdquo;Rein rechnerisch kommen auf jeden Versorgungsauftrag in Westfalen-Lippe aktuell 2.799 Kinder und Jugendliche“, teilt ein Sprecher mit. Diese allgemeine Verhältniszahl gelte überall in Westfalen-Lippe, außer in Bielefeld, wo sie bei 2.069 liege. Das Fazit aus diesen Zahlen: &bdquo;In keinem Planungsbereich in Westfalen-Lippe besteht derzeit in der Fachgruppe der KinderärztInnen eine Unterversorgung oder droht unmittelbar.“

Spricht man mit einer Medizinischen Fachangestellten einer Kinderarztpraxis aus dem offiziell gut versorgten Bielefeld, wird schnell klar, wie meilenweit diese Klassifizierung an der Realität vorbeigeht. 30 bis 40 Anfragen müssen Clara Meier (Name geändert) und ihre Kolleginnen pro Tag ablehnen. Teilweise sind diese Familien schon seit Monaten auf der Suche nach einem Kinderarzt. &bdquo;Die sind verzweifelt – und natürlich auch wütend und am Ende ihrer Geduld. Das kriegen wir dann ab“, sagt Meier.

Möglich machen kann sie nur Einzeluntersuchungen in Ausnahmefällen. &bdquo;Wenn Eltern mit einem Neugeborenen anfragen, versuchen wir alles, denen einen Vorsorgetermin zu geben, weil der so wichtig ist. Aber dauerhaft aufnehmen können wir die trotzdem nicht. Wir sind am Limit.“ Was das heißt, verdeutlicht eine Zahl aus dem Tagesprotokoll der Praxis: Am vergangenen Montag waren 231 Patienten in der Sprechstunde. Bei drei diensthabenden Ärzten bedeutet das: Jeder Pädiater musste sich um 70 Patienten kümmern. &bdquo;Ein Kollege war aber nur fünf Stunden und nicht acht im Einsatz.“ Rechnet man das runter, blieben im Schnitt für jeden Patienten an diesem Tag nicht mal sechs Minuten Versorgungszeit.

Sprecher der Kinderärzte Westfalen-Lippe kritisiert System Wie weit die Zahlen auf dem Papier und der oben beschriebene Alltag in den Praxen und für Familien auseinanderliegen, weiß auch Marcus Heidemann, Vorstand des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Westfalen-Lippe. &bdquo;Dem Versorgungsgrad liegen Parameter zugrunde, die aus den 90er Jahren stammen und damit völlig veraltet sind.“ Diese Zahlen seien zwar mehrfach überarbeitet worden, hätten aber nach wie vor nichts mit der Versorgungsrealität zu tun. &bdquo;Und die Berechnungen, die dahinterstehen, wie viel Zeit zum Beispiel ein Arzt pro Patient braucht, geben nicht im Ansatz das wirkliche Arbeitspensum der Kinderärzte heute wieder.“

Dabei ist man sich bei der KVWL durchaus auch bewusst über die erschwerten Bedingungen. So teilt ein Sprecher auf Anfrage mit: &bdquo;Zugegeben: Eine auf dem Papier gute Versorgung ist das eine.“ Die Praxis spreche aber leider aus unterschiedlichen Gründen eine andere Sprache. &bdquo;Grundsätzlich lässt sich sagen, dass das Arbeitspensum der Kinderärzte aufgrund einer gestiegenen Behandlungsbedürftigkeit der Kinder und Jugendlichen – beispielsweise durch zunehmende ADHS-Erkrankungen, Mobbing und psychische Probleme – in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat.“

Außerdem seien die empfohlenen Vorsorge-Untersuchungen, Impfungen und Screenings für Kinder im Laufe der Jahre mehr geworden, was für den Arzt eine deutliche Mehrarbeit je Kind bedeute. Seit den 1980er-Jahren hat sich beispielsweise die Anzahl der Vorsorge-Untersuchungen aufseiten der niedergelassenen Kinderärzte von sechs auf 13 mehr als verdoppelt.

Dreifach-Mutter aus OWL sucht seit einem Jahr nach einem Kinderarzt Hinzu komme die Problematik des Nachwuchses und der offenen Sitze. Denn scheinbar fließen in die Berechnungen der Versorgungsgrade nicht ein, ob eine Praxis wirklich besetzt ist oder eben nicht. Denn auch bei der KVWL weiß man: &bdquo;Aktuell gibt es in Westfalen-Lippe 15,0 offene Sitze, vor allem in Ostwestfalen. Gleichzeitig ist die Suche für altersbedingt ausscheidende Kinderärzte selbst in Städten wie Bielefeld schwierig.“

Heißt also wieder am Beispiel Bielefeld: In einer sich nicht an den tatsächlichen Bedarfen orientierenden Theorie gibt es genug Kassensitze für die hier lebenden Kinder und Jugendlichen. Von diesen Kassensitzen sind dann aber auch noch einige nicht vollständig besetzt, so dass die ohnehin in der Theorie fehlerhafte Berechnung noch viel weniger aufgeht.

Ariane Werner (Name geändert) erfährt das seit einem Jahr am eigenen Leib. Die Mutter dreier Kinder kommt aus OWL und ist mittlerweile seit über 12 Monaten auf der Suche nach einem Kinderarzt, weil ihr ehemaliger Pädiater in Rente ging. Sie steht bei mehreren Praxen auf der Warteliste, fündig wird sie nicht. Neben der aufwendigen Suche muss sie sich mittlerweile auch noch mit Schreiben des Jugendamts auseinandersetzen. In denen fordert man sie auf, ihre Kinder dringend mal wieder bei den Vorsorge-Untersuchungen ihres Kinderarztes vorzustellen.

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