Viele Kinder bekommen in OWL keine Vorsorge-Untersuchungen

Bielefeld. Der Mangel an Kinderärzten in OWL ist für viele Familien bittere Realität. Während Praxen melden, dass sie täglich 30 bis 40 Aufnahme-Anfragen von Eltern ablehnen müssen, behauptet die für die Versorgung zuständige Stelle, die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe, dass es keine Unterversorgung gäbe. Dabei sind mittlerweile sogar die Jugendämter mit dem Problem befasst. Denn sie müssen immer öfter an die wichtigen Vorsorgeuntersuchungen erinnern und sich mit verzweifelten Eltern auseinandersetzen.

Zwischen 150 und 250 Erinnerungsschreiben für Vorsorgeuntersuchungen verschickt das Jugendamt Bielefeld pro Monat nach eigener Angabe an Eltern. Im Jahr 2024 waren es insgesamt 2.451 Schreiben, 2023 2.543 Schreiben. Vor der Pandemie waren es im Jahr 2019 deutlich weniger, nämlich 1.913 Erinnerungen. Welche der Untersuchungen tatsächlich nachgeholt werden oder gar nicht stattfinden, geht aus den Zahlen nicht hervor.

Für Sozialdezernent Ingo Nürnberger aber steht der Anstieg klar im Zusammenhang mit dem Kinderärztemangel. &bdquo;Ein Problem heute ist, dass viele Eltern sich auf unser Anschreiben melden, weil sie damit – angesichts des Mangels an Kinderärzten – die Erwartung verbinden, dass das Jugendamt ihnen einen Termin beim Kinderarzt besorgen kann.“ Sie wollten die Vorsorge eigentlich wahrnehmen, bekämen aber keinen Termin. &bdquo;Die Eltern sind verständlicherweise aufgebracht, wenn die Fachkräfte ihnen dann mitteilen müssen, dass auch sie keine Möglichkeiten haben, für eine Vorstellung des Kindes beim Arzt zu sorgen.“

Jugendämter aus Kreis Paderborn und Löhne melden auch Anstiege Aus Sicht der Jugendhilfe stelle diese nicht ausreichende Versorgung ein großes Problem dar. Zuletzt sei dies beim regionalen Kinderschutznetzwerk thematisiert worden, da es zum Beispiel im Bielefelder Stadtteil Jöllenbeck keinen Kinderarzt mehr gebe. &bdquo;Das Thema wurde unsererseits auch immer wieder in kommunale Gremien eingebracht“, so Nürnberger. &bdquo;Die Zuständigkeit liegt aber bei der Kassenärztlichen Vereinigung, die aber keinen Mangel sieht.“ Stattdessen meldet die KVWL für Bielefeld einen Versorgungsgrad, der nahe an der Überversorgung liegt.

Im Kreis Paderborn ist der kontinuierliche Anstieg der Zahl verpasster Vorsorgeuntersuchungen ebenfalls klar zu erkennen. Von 2013 bis 2020 stieg die Anzahl von 570 auf 1.043, 2022 waren es 1.288, danach ging die Zahl im Jahr 2023 auf 941 zurück.

Im Kreis Höxter, der als einziger auch bei der KVWL zu wenig Kinderärzte hat, ist der Anstieg der Erinnerungsschreiben ebenfalls zu beobachten, fällt aber moderater aus als in anderen Regionen. 2018 und 2019 wurden 516 und 586 Schreiben verschickt, 2023 waren es bereits 775, im vergangenen Jahr ging die Zahl aber wieder auf 645 zurück. Hier verweist Kreissprecherin Silja Polzin allerdings auch auf die Lage im Dreiländereck, viele Menschen fänden auch im naheliegenden Hessen oder Niedersachsen medizinische Versorgung.

Fazit aus Löhne: Belastete Familien kommen seltener zur Vorsorge Einen Zusammenhang zwischen nicht wahrgenommenen Vorsorgeuntersuchungen und fehlenden Kinderärzten kann Jugendamtsleiter Karsten Oeynhausen nicht bestätigen. &bdquo;Es ist allerdings schwierig geworden, kurzfristig einen Nachholtermin zu bekommen.“ Schwierig sei es auch für neu in den Kreis gezogene Familien, überhaupt einen Kinderarzt zu finden.

Im Kreis Herford meldet das Jugendamt Löhne: &bdquo;Ab 2016 ist ein Anstieg der Erinnerungsschreiben um etwa 140 jährlich zu verzeichnen, der in 2020 und 2021 noch einmal einen Aufschwung erlebte“, erklärt Amtsleiterin Nicole Schröder.

Waren es in den Jahren vor der Pandemie jährlich zwischen 90 und 100 Erinnerungen, beläuft sich die Zahl in 2023 und 2024 auf 197 und 191 Sendungen. Aus Schröders Sicht ist diese Entwicklung besorgniserregend. &bdquo;Nachlassende Versorgung tritt den Zielen der Vorsorgeuntersuchungen entgegen: Kindern eine gesunde körperliche, geistige und soziale Entwicklung zu ermöglichen.“

Auch zu den Gründen für das Versäumen der Vorsorge kann das Jugendamt Löhne Angaben machen – und auch die sind problematisch. Denn die häufigsten Hintergründe sind nicht Vergesslichkeit oder Systemfehler, sondern Belastungsfaktoren in den betroffenen Familien wie Sprachschwierigkeiten, psychische Belastungen, Erkrankungen, mangelnde Integration, fehlende Mobilität und finanzielle Probleme.

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&bdquo;Es gibt dann in diesen Familien häufig keinen Kinderarzt mehr, die Kitas sind aufgrund des Personalmangels nur noch Aufbewahrungsanstalten, und die Eltern haben heute in vielen Fällen nicht mehr die Ressourcen, ihr Kind zu fördern.“ Hier spielten sprachliche Probleme, Bildung, Zeitmangel, aber auch zunehmend häufiger psychische Schwierigkeiten eine Rolle.

Da die Vorsorgeuntersuchungen zudem nur empfohlen, aber nicht gesetzlich vorgeschrieben seien, gebe es keine Kontrolle oder eine Übersicht darüber, ob verpasste Termine am Ende nachgeholt werden oder gänzlich entfallen. &bdquo;Und auch die Erinnerungsschreiben der Jugendämter oder anderer Stellen haben keine Auswirkungen“, sagt Heidemann. &bdquo;Bußgelder oder andere Konsequenzen dürfen hier nicht angewandt werden.“ In den meisten Praxen kann ein Termin zudem nur in einem befristeten Zeitraum nachgeholt werden.

Sprachentwicklungsstörungen in NRW und OWL auf Rekordhoch Eine gut zu beziffernde und gravierende Auswirkung dieser Situation sind Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern. Allein in NRW haben so viele Kinder wie nie eine Störung. 15 Prozent aller Sechs- bis Zwölfjährigen sind laut der Barmer Krankenkasse davon betroffen, das ist ein Anstieg der Diagnose-Rate um 75 Prozent seit 2005.

Ohne Vorsorgeuntersuchung, in der neben physischer Unversehrtheit und Motorik auch die Sprachentwicklung geprüft wird, fallen Störungen erst bei der verpflichtenden Schuleingangsuntersuchung im fünften oder sechsten Lebensjahr auf. Und hier gaben Gesundheitsämter in OWL zuletzt an, dass ein Drittel der untersuchten Kinder nicht altersgerecht spricht.

Doch nicht nur Entwicklungsstörungen sind eine Folge der rückläufigen medizinischen Versorgung von Kindern. Auch die U2 und U3 für Neugeborene und Säuglinge ist längst nicht mehr garantiert. Denn laut Praxen und Jugendämtern haben vor allem frischgebackene Eltern Probleme, einen Mediziner zu finden. Und bei diesen Untersuchungen geht es um Lebenswichtiges: das Erkennen von angeborenen Erkrankungen, Vermeidung von Komplikationen, Kontrolle des Gewichts und Untersuchung von Organen und Reflexen. Einige dieser Kontrollen können zwar auch Hebammen durchführen – doch die sind mittlerweile genauso schwer zu finden wie ein Kinderarzt.

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