Bielefelder Schulleiter fordert: „Es muss dringend etwas passieren in der Schullandschaft“

Bielefeld. &bdquo; Wenn man Probleme, Schulschwänzer und andere schwierige Fälle bündelt, ist das nicht gut“ , sagt Torsten Schätz, Leiter der Martin-Niemöller-Gesamtschule. Ein Interview.

Herr Schätz, die Gesamtschule verkomme immer mehr zu Restschule: Mit drastischen Worten und einem offenen Brief an die Stadtpolitik schlagen Sie und die Leiter der anderen drei Bielefelder Gesamtschulen jetzt Alarm. Was ist los an Ihrer Schulform?

Torsten Schätz: Die DNA der Gesamtschulen ist in Gefahr: Ein Drittel Haupt-, ein Drittel Realschul- und ein Drittel Gymnasialempfehlungen sollten es bei uns eigentlich sein. Das ist die zentrale Basis für erfolgreiches, gemeinsames Lernen. Seit in Bielefeld die Hauptschulen geschlossen, aber an den Realschulen – anders als in anderen Städten in NRW, wie beispielsweise auch in Steinhagen – keine Hauptschulgänge eingerichtet wurden, geht das Konzept nicht mehr auf. Das System stößt zunehmend an seine Grenzen, da es an leistungsstarken Kindern und Jugendlichen fehlt. An Gesamtschulen kommen nicht nur die abgeschulten Realschüler an, sondern auch geflüchtete und abgeschulte Schüler aus den internationalen Klassen. Wenn man die Gesamtschulen nicht wie die Hauptschulen zu Restschulen verkommen lassen will, so wie es in den letzten Jahren systematisch in Bielefeld passiert ist, muss dringend etwas passieren.

Realschulen, aktuell die beliebteste Schulform in Bielefeld, an der es zum Sommer für 96 Kinder ohnehin schon keinen Platz gibt, zu schließen, schlagen Sie da unter anderem vor. Müsste man nicht stattdessen lieber mit seinem eigenen Schulformangebot besser überzeugen?

Das funktioniert leider nicht mehr. Denn Stück für Stück und sehenden Auges wurde die Heterogenität der Gesamtschulen angegriffen. Wir leisten und schultern trotz aller Erschwernisse eine Menge für die Bielefelder Stadtgesellschaft. Und schaffen es, bis zur Hälfte eines 10er-Jahrgangs zum Abitur zu führen; Schüler, die ursprünglich eine Hauptschulempfehlung hatten. In den Augen vieler Eltern stehen wir aber trotzdem nur noch als Problemschulen da. Andere Städte, auch im Umfeld, zum Beispiel in Spenge, haben Realschulen geschlossen, um die Gesamtschulen zu stärken. So erfolgreich, dass sogar neue gegründet wurden. Mancherorts ist die Gesamtschule die gefragteste Schulform, da dort strukturell die Voraussetzungen für eine gelingende Heterogenität geschaffen wurden.

Schaut man hier in Bielefeld auf die Anmeldezahlen von den Grund- auf die weiterführenden Schulen, zeigt sich seit Jahren bereits allerdings ein anderes Bild: wenig Anmeldungen und etliche freie Plätze. Im Jahrgang 8 hatten Sie an Ihrer Schule aber wiederum so viele Schüler, dass alle sechs Klassen voll waren und Sie eine zusätzliche Mehrklasse einrichten mussten. Wie kommt diese Entwicklung?

Schaut man sich lediglich die Anmeldungen im Jahrgang 5 an, kann man den Eindruck haben, dass man uns vernachlässigen kann. Aber ab Jahrgang 7 aufwärts haben wir, unter anderem durch Zuzug und Mehrklassen, fast mehr als doppelt so viele Schüler als zum Start. Auch aufgrund der vielen Schulwechsel. An den Gesamtschulen kommen jährlich im Laufe eines jeden Frühjahrs rund 100 Anfragen von Bielefelder Realschulen an, die Schulplätze für ihre abzuschulenden Schüler suchen.

In Ihrem gemeinsamen Brief machen Sie Schuldezernent Udo Witthaus für die Misere verantwortlich. Was steckt dahinter?

Die jetzige Situation war vorhersehbar. Bielefeld hat Hauptschulen geschlossen, ohne flankierende Maßnahmen zu treffen. Man wollte die zu Restschulen verkümmerten Hauptschulen, die ja keine schlechte Arbeit gemacht haben, nicht weiter bestehen lassen und Hauptschüler nicht weiter der Diskriminierung aussetzen. Der nächste Schritt: Hauptschulbildungsgänge an Realschulen zu schaffen, wie in Steinhagen, oder – wie in anderen Kommunen – parallel Realschulen ebenso zu schließen, blieb aus. Man ist stillschweigend davon ausgegangen, dass die Hauptschüler – in der Vorstellung vieler Menschen lern- und leistungsschwach, schwer integrierbar oder verhaltensauffällige, dann eben an Gesamtschulen unterkommen. Was dies mit unserer Schulform macht, hat sich niemand gefragt. Das Ergebnis sehen wir jetzt.

Ein konkretes Ergebnis ist bei Ihnen eine Klasse im Jahrgang 8, die sie selbst als &bdquo;schon heftig“ bezeichnen. Was ist da los?

Per Erlass sind wir als aufnehmende Schule gezwungen, die abgeschulten Kinder nicht in einer Klasse zu bündeln. Das ist auch sinnvoll. Weil die anderen Klassen aber alle voll sind, müssen alle neu gemischt werden. Verständlicherweise führt das zu viel Unmut. Und die neue Klasse hat nichts Verbindendes: keine Klassenfahrten, kein &bdquo;Soziales Lernen“, keine Gruppenstrukturen oder seit Klasse 5 gewachsene Freundschaften. Und dann noch mitten in der Pubertät: Das kann nicht funktionieren. Wenn man Probleme bündelt und sich zum Beispiel Schulschwänzer und andere schwierige Fälle zusammentun, ist das nicht gut. Weder für die Situation an der Schule, noch für die Stadt. Und schon gar für die Kinder und ihre Zukunft.

Kleiner ist besser, Gesamtschulen sind groß und anonym, so auch ein Argument vieler Eltern für die Realschulwahl. Was entgegnen Sie denen?

Durch die Größe haben wir ein breites Fächerangebot, wie beispielsweise auch Psychologie, Sport und Kunst als Leistungskurse. Außerdem sind wir in kleine Einheiten aufgeteilt, es gibt für alle Jahrgänge einzelne Teams und Lehrerzimmer. Die Größe einer Schule spielt eine untergeordnete Rolle, es gibt auch kleine Schulen, die nicht gut angewählt werden.

Die Gesamtschule Quelle als Bielefelder Ausnahme, aber auch Leopoldshöhe oder Werther haben gute Anmeldezahlen im Jahrgang 5, die Heterogenität funktioniert. Was ist da das Erfolgsrezept?

In Leopoldshöhe ist die Gesamtschule die einzige weiterführende Schule. Dort, und auch im ländlichen Werther, ist die Welt gefühlt noch in Ordnung. Auch die Gesamtschule Quelle liegt in einem ländlicheren Einzugsgebiet mit einer guten Bahnverbindung in den Nachbarkreis.

Im Handwerk fehlt der Nachwuchs, der früher oft von den Hauptschulen kam. Viele andere Städte, wie Bochum, Bonn, Münster und Wuppertal, gibt es noch mehrere. Wäre es nicht auch eine Idee für Bielefeld, da jetzt doch wieder eine zu gründen, mit einem richtig guten, praxisorientierten Konzept?

Nein, da würde sich niemand anmelden. Viele Eltern wollen zwar ein gegliedertes System, aber keiner will sein Kind ganz unten sehen.

Auf Antrag der Ratskoalition soll Schulpolitik jetzt ganz neu aufgestellt, Anmeldegründe erhoben, die Vernetzung in den Bezirken und die schwach angewählten Schulen gestärkt werden. Ist das aus Ihrer Sicht ein erster Schritt in die richtige Richtung?

Ja, das ist ein richtiger Schritt. Wir brauchen aber auch eine Veränderung in der Bielefelder Schullandschaft mit mehr Hauptschulbildungsgängen und mehr Plätzen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Gemeinsamen Lernen, also auch in den Gymnasien. Die Debatte muss jetzt geführt werden. Um die Demokratie und den Zusammenhalt zu stärken, müssen wir die Menschen und die Schulen zusammenbringen.

Persönlich:

Torsten Schätz (60) leitet seit 2021 die Martin-Niemöller-Gesamtschule. Er ist Mitglied im Sprecherrat der Gesamtschulen und Sekundarschulen NRW. Zuvor hat er fünf Jahre lang als schulfachlicher Dezernent für die Bezirksregierung in Detmold gearbeitet und war zuständig für die Gesamt- und Sekundarschulen in Bielefeld und Minden-Lübbecke. Er hat Lehramt mit den Fächern Deutsch und Geschichte studiert. Seine Hobbys: Segeln, Laufen &bdquo;und natürlich Arminia“. Schätz ist in Sennestadt aufgewachsen, hat dort am Hans-Ehrenberg-Gymnasium Abitur gemacht. Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und zwei Enkelkinder.

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