Pflegefall mit Mitte 20: Wie ein „Unfall“ das ganze Leben von Alexander Fabisch verändert

Petershagen. Alexander Fabisch steht zu dem Zeitpunkt die ganze Welt offen. Er hat ein Jahr in Irland verbracht, studiert Lehramt in Hannover. Seine Fächer sind Deutsch und Geschichte und in wenigen Monaten soll das Referendariat beginnen. Dann lässt der damals 26-Jährige einige Tage nichts von sich zu hören, reagiert nicht auf Anrufe und verpasst eine Familienfeier. &bdquo;Das war nicht seine Art - deswegen sind wir zu ihm aufgebrochen“, erinnert sich die Mutter.

Die Angehörigen kommen aus Barsinghausen, haben einen Schlüssel für seine Wohnung in Hannover. Der Student liegt bewusstlos in seinem Erbrochenen. Sie rufen den Rettungsdienst. Alexander Fabisch muss in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) künstlich beatmet werden - die Ärzte schätzen die Überlebenschancen gering ein.

Dieser, wie ihn Hannelore Hardt nennt, Unfall im August 2007, hat alles verändert. Ihr Sohn wird keine Schüler unterrichten und kein Wissen vermitteln. Er kann seitdem weder sprechen noch gehen - der heute 44-Jährige erkennt auch keine nahestehenden Menschen. Der Hirnschaden gilt als irreparabel. Er hat den höchsten Pflegegrad fünf, kann den Alltag ohne Hilfe nicht im Ansatz selbstständig bewältigen.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts waren Ende 2023 knapp 5,7 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Die meisten von ihnen (86 Prozent) werden zu Hause versorgt und sind älter als 65 Jahre. Dass Menschen so jung wie Alexander Fabisch zum Pflegefall werden und in einem Heim leben, ist ungewöhnlich. Häufig gelten Verkehrs- oder Arbeitsunfälle und Krankheiten als Ursache.

Fabisch gehört in seiner Altersgruppe (40 bis 45 Jahre) zu den rund 2000 Fällen bundesweit, die vollstationär in Heimen gepflegt werden müssen. Für diese Menschen ist die &bdquo;Junge Pflege“ vorgesehen, die Betreiber passen in diesen Einrichtungen den Lebensalltag und Freizeitaktivitäten je nach Pflegegrad und dem Alter entsprechend an. Seit November 2018 hat Alexander Fabisch einen der 32 belegten Plätze für &bdquo;Junge Pflege“ im Haus Bethesda der Diakonie Stiftung Salem. Viele der Bewohner bleiben hier mehrere Jahre bis zu ihrem Tod.

Das letzte Bild vor dem &bdquo;Unfall“ Die Mutter des 44-Jährigen ist bereit, die Geschichte ihres Kindes zu erzählen - auch, um andere zu warnen. Ihr Sohn sitzt beim Gespräch teilnahmslos nebenan im Rollstuhl, bewegt den Kopf zwischendurch oder döst in seinem hellen Zimmer vor sich hin. Sein Körper wirkt kräftig, fast muskulös – es ist wie ein stiller Widerspruch zur völligen Hilflosigkeit. Dass seine Organe bislang alles mitgemacht haben, erstaunt auch die Mutter. An der Wand hängen Fotos aus der Kindheit. Sie zeigen ihn mit seinen Schwestern und beim Fechten. Auf einem Porträt ist der einstige Student mit Brille leicht lächelnd im Hemd zu sehen, er guckt an der Kamera vorbei. Es ist das letzte Bild vor dem &bdquo;Unfall“. All diese Aufnahmen in der Collage liegen lange zurück.

Nachdem Alexander Fabisch 2007 auf der Intensivstation liegt, muss sich die Familie entscheiden, eine Patientenverfügung oder Ähnliches gibt es nicht. Da sich Erbrochenes in der Lunge befunden hat, bekam Fabisch zu wenig Sauerstoff. Auslöser für den Zusammenbruch war offenbar ein diabetischer Schock. Die Ärzte diagnostizieren, dass er einen dauerhaften Hirnschaden erlitten hat. &bdquo;Wir konnten uns nicht vorstellen, dass er damit und in diesem Zustand weiterleben hätte wollen,“ so Hannelore Hardt. Die Eltern und zwei Schwestern beschließen, dass die Geräte für die künstliche Beatmung abgestellt werden sollen. Die Ärzte gehen davon aus, dass der Patient unmittelbar danach sterben wird. &bdquo;Ich habe ihm gewünscht, dass er die Erde ohne Schmerzen verlassen darf“, sagt Hannelore Hard.

Nie nach dem Warum gefragt Es kommt anders. Alexander Fabisch beschließt weiterzuleben und atmet eigenständig. Dass sein Körper nicht aufgibt, gleicht einem kleinen Wunder. Der Mutter macht das zunächst Hoffnung. Sie glaubt, dass er trotz der Schäden wieder auf die Beine kommt - doch sie irrt sich. Alexander Fabisch macht in einer Reha in Leezen (Schleswig-Holstein) keine Fortschritte. Hannelore Hardt besucht ihn jedes Wochenende. Sie hat damals noch als Lehrerin gearbeitet. &bdquo;Ich habe nur funktioniert, viel auf den Rückfahrten geweint.“ Und irgendwann habe sie sich mit der Situation arrangiert, &bdquo;obwohl es mir wahnsinnig wehtat.“ Die 72-Jährige wohnt inzwischen in Bückeburg und sagt: &bdquo;Wir haben nie nach dem Warum gefragt, ändern können wir ohnehin nichts mehr.“

Bei ihrem Sohn wurde bei der Musterung für den Wehrdienst 1999 die Stoffwechselerkrankung Diabetes Typ 1 festgestellt. &bdquo;Er hatte ein Einser-Abitur, war schlau, erwachsen und ist trotzdem sehr lasch mit dieser Krankheit umgegangen“, blickt sie zurück. Mehrmals habe ihn seine Familie unterzuckert ins Krankenhaus bringen müssen. So sei er beispielsweise ohne eine Stück Schokolade oder Zucker wandern gewesen und musste auf dem schnellsten Weg nach Hause gebracht werden. Ein anderes Mal habe er ausgetestet, wie lange er ohne künstlich zugeführtes Insulin zurechtkomme.

Immer mehr Betroffene Die Ärzte rieten ihm auch, dass er eine Hirnuntersuchung machen solle, da sie auch Epilepsie bei ihm vermuteten, blickt Hannelore Hardt zurück. &bdquo;Aber mein Sohn wollte das nicht.“ Überhaupt habe er von vielen Diabetikern Tipps bekommen, ohne sie wirklich anzunehmen. &bdquo;Er war doch erwachsen und gebildet“, hält die Mutter fest.

Diabetes gilt als Volkskrankheit. Forscher gehen davon aus, dass die Zahl der Diabetes-Erkrankungen in Deutschland bis 2040 von derzeit 8,7 auf mehr als 12 Millionen steigen wird. Sie zählen auch mehr Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Dass jüngere Menschen zu locker mit Diabetes umgehen, kommt häufiger vor, wie eine Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) aus dem Jahr 2014 zeigt. Insgesamt 2,5 Prozent der Erwachsenen mit einer bekannten Diabetes seien demnach im Jahr von einer schweren Unterzuckerung (Hypoglykämie) betroffen gewesen. Sie kann laut RKI zu Bewusstseinsstörungen, einem Schock - wie bei Alexander Fabisch - oder Koma führen und erhöht das Risiko für Folgekomplikationen. Im schlimmsten Fall endet sie tödlich.

Er ist kein Einzelfall im Haus In der Studie heißt es auch, dass solch schwere Hypoglykämien statistisch gesehen vor allem bei 18- bis 44-Jährigen auftreten. Auch einige junge Nachbarn von Alexander Fabisch im Haus Bethesda haben aufgrund der Diabetes ein ähnliches Schicksal erlebt, weiß Einrichtungsleiterin Isabella Grosinski: &bdquo;Vor allem Menschen, die im Laufe ihres Lebens und nicht von Beginn an Diabetes haben, bekommen Probleme - er ist kein Einzelfall bei uns.“

Das hilft Alexander Fabisch zwar nicht weiter, aber seine Mutter ist dennoch froh, dass er in Lahde eine neue Heimat gefunden hat. Nach der Reha heißt es, dass er austherapiert sei, nach Hause und dort 24 Stunden gepflegt werden müsse. Für seine Familie ist das nicht machbar. Fabischs Blutzuckerwerte müssen ständig beobachtet werden. Den Angehörigen fehlt auch die körperliche Kraft, um den Mann zu heben, zu bewegen und zu versorgen.

&bdquo;Alexander war sehr belesen“ Er kommt zuerst in einem Altenheim unter und dann in eine andere Einrichtung für junge Pflege. &bdquo;Wir waren dort nicht zufrieden, es hat nicht gepasst.“ Viele Alternativen für junge Pflegepatienten gibt es in der Region nicht, zufällig stoßen die Eltern aufs Haus Bethesda. &bdquo;Hier machen sie viel mit meinem Sohn, auch Mobilisationsübungen, er muss da durch und kann sich ohnehin nicht wehren“, bemerkt Hannelore Hardt mit einem Lächeln.

Hin und wieder denkt sie auch darüber nach, wie sein Leben ohne den &bdquo;Unfall“ verlaufen wäre. &bdquo;Alexander kannte sich gut mit Geschichte aus, war sehr belesen, unterhaltsam, pfiffig und manchmal auch ein wenig überheblich.“ Hannelore Hardt glaubt, dass aus ihm ein guter Lehrer geworden wäre. Es schmerzt sie, dass er inzwischen Onkel ist, davon aber nichts mitbekommt. Die Besucher im Heim beschränken sich auf die Eltern und Schwestern. Ehemalige Freunde kämen nicht. Eine einzige Freude sei ihm geblieben. &bdquo;Er isst sehr gerne.“

Mutter schätzt Kontakt mit Kindern Verstecken möchte Hannelore Hardt ihren Sohn nicht. &bdquo;Er gehört zu mir und meinem Leben.“ Sie freut sich, wenn sie mit dem 44-Jährigen im Rollstuhl spazieren geht und ihnen Kinder entgegenkommen. &bdquo;Sie fragen dann, was er hat.“ Hannelore Hardt findet es gut, dass die Kleinen auf diesem Wege mit eingeschränkten oder behinderten Menschen in Kontakt kommen. Gleichzeitig sendet die Mutter einen Appell, ohne ihren Sohn vorführen zu wollen: &bdquo;Man sollte sich das Leben von Alex angucken, um zu wissen, dass man mit sich selbst ein bisschen sorgfältiger umgeht.“

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