Wenn der Krieg nicht endet: Bielefelder Veteran kämpft nach Einsatz mit Traumata

Bielefeld. Als Oliver Urban an jenem Nachmittag den Elektronikmarkt in der Bielefelder Innenstadt betritt, denkt er an nichts Besonderes. Menschen schieben sich zwischen Regalen hindurch, es ist laut, eng, fremde Sprachen prallen von allen Seiten auf ihn ein. Plötzlich reißt ihn eine Welle aus Panik aus der Realität. Er schwitzt, kann nicht mehr atmen, sein Herz rast. Es fühlt sich an wie damals – wie im Einsatz. Zwei Jahrzehnte nach seiner Zeit als Zeitsoldat bei der Bundeswehr erlebt Urban mitten im Alltag den ersten heftigen Schub einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Er muss aus dem Laden geführt werden.

Was er lange verdrängt hatte, bricht sich Bahn: Erinnerungen an den nächtlichen Brand in einem Feldlager bei Sarajevo, an Schüsse während einer Festnahmeaktion im Kosovo, an all die Situationen, in denen der Körper überlebte, der Kopf aber nicht zur Ruhe kam.

Von diesen Erfahrungen berichtete Oliver Urban nun in Bielefeld – vor Schülern des Carl-Severing-Berufskollegs. Im Murnau-Saal der Ravensberger Spinnerei schilderten er und andere ehemalige Soldaten, die sich im Bund Deutscher Einsatz-Veteranen engagieren, wie Auslandseinsätze das Leben dauerhaft verändern können – psychisch, sozial, familiär. Die jungen Berufsschüler erfuhren aus erster Hand, was es heißt, wenn seelische Wunden nicht heilen, sondern nach Jahren plötzlich aufbrechen.

Schießerei bei Festnahme eines mutmaßlichen Kriegsverbrechers

Oliver Urban aus Bielefeld verpflichtete sich 1999 für acht Jahre als Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Insgesamt 630 Tage verbrachte er in SFOR- und KFOR-Einsätzen im ehemaligen Jugoslawien in Bosnien und Herzegowina sowie im Kosovo. SFOR steht für Stabilisation Force, einer multinationalen Friedenstruppe der NATO, die von 1996 bis 2004 in Bosnien und Herzegowina stationiert war. Bei KFOR, der Kosovo Force, ist die Bundeswehr seit dem 12. Juni 1999 im Kosovo präsent. Die Einsätze dauerten für den Stabsunteroffizier jeweils zwischen vier und sechs Monaten.

Im Feldlager Rajlovac, etwa 12 Kilometer vom Stadtzentrum Sarajewo entfernt, erlebte Urban den Brand einer Betreuungseinrichtung, die an sein Unterkunftsgebäude angebaut war, aus nächster Nähe mit. &bdquo;Hätten Kameraden unsere Stube nicht mit Gewalt geweckt, hätten wir das Feuer wohl nicht überlebt“, berichtete er eindrucksvoll den jungen Berufsschülern, mit Fotos von der Brandruine.

Als die Bundeswehr französische Soldaten bei einer Festnahme eines mutmaßlichen Kriegsverbrechers in Mostar unterstützte, war der Bielefelder in einem Bundeswehrbus als Nahsicherer eingesetzt und dabei in einen Schusswechsel geraten. Diese Erlebnisse und viele andere Eindrücke aus dem Einsatzland haben bei Urban Spuren hinterlassen und sich 23 Jahre später als Auslöser für eine PTBS herausgestellt. Offen zutage getreten ist die Krankheit bei eben jenem Besuch in einem Elektronikmarkt in Bielefeld, der damals extrem gut besucht war. Die Menschenmassen und die vielen fremden Sprachen haben ihn derart irritiert, dass er nur mit Hilfe aus dem Geschäft heraus kommt.

Viele Einsatzrückkehrer leiden unter Albträumen und Depressionen

Für Urban, der heute als Leiter einer Fahrlehrerausbildungsstätte in Bielefeld arbeitet, folgte ein langer Therapieaufenthalt in Bethel. Dort lernte er, seine Körpersignale zu erkennen und entsprechend zu reagieren. &bdquo;Heute wissen wir, dass PTBS nicht mehr weggeht“, sagt er und erklärt den Schülern, dass Eindrücke und Erlebnisse nicht richtig verarbeitet und abgespeichert werden können und dass schon ein Türknallen ein Triggerpunkt sein kann. &bdquo;Die Bundeswehr tut sich schwer, dieses anzuerkennen, und sucht nach anderen Auslösern“, weiß Urban aus eigener Erfahrung.

Ein stark verändertes Verhalten und Gefühlsleben kann auf eine einsatzbedingte psychische Belastung hindeuten. Viele Einsatzrückkehrer leiden unter Schlafproblemen, Albträumen von im Einsatz Erlebten, Depressionen, Schreckhaftigkeit oder dem Bedürfnis, sich zurückzuziehen.

Der Bund Deutscher Einsatz-Veteranen (BDV) hat als mildtätiger, unabhängiger und politisch ungebundener Verein das erste zivile Betreuungskonzept für Einsatzverwundete und deren Angehörige entwickelt. Seit 2010 begleiten ehrenamtliche Paten zu jeder Zeit Betroffene und deren Familien. &bdquo;Unsere Hilfe ist kostenlos und unbürokratisch“, erklärt Urban, Regionalvorstand West und Fallmanager des BDV. Er selbst betreut in vier Bundesländern 160 ehemalige Soldaten.

Als Reservist mit der Bundeswehr in Somalia

Ähnlich sieht es auch bei Oliver Höhn aus, der heute in Minden ein Tattoo-Studio betreibt. Der 60-Jährige hatte sich 1984 bis 1988 als Zeitsoldat für vier Jahre verpflichtet. 1993 ging er als Reservist mit der Bundeswehr nach Belet Huen in Somalia, wo er als Oberfeldwebel und Sanitäter im Einsatz war. &bdquo;Manches kann ich erzählen, manches nicht. Nicht, weil es geheim ist, sondern weil es mich belastet“, sagt er heute über seine Zeit im ersten bewaffneten Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebiets, der letztlich aber nicht einmal ein Jahr dauerte. Heute betreut Höhn als Pate für den BDV acht unter PTBS leidende ehemalige Soldaten.

&bdquo;An einer psychischen Überlastung zu erkranken, ist kein Zeichen von Schwäche oder Versagen“, betont Oliver Urban. &bdquo;Es ist die vollkommen normale Reaktion auf ein außergewöhnliches und belastendes Ereignis. Sich Hilfe zu suchen, ist keine Schande und in Therapie zu gehen, zeigt lediglich, wie stark und entschlossen man ist, unter Mühsal, Schweiß und Tränen sein Leben neu zu ordnen.“

450.000 Soldaten ins Ausland geschickt

Der PTBS-Beauftragte des Bundesverteidigungsministeriums, Oberstarzt Peter Zimmermann, sieht kein grundsätzliches Problem bei der Bundeswehr: &bdquo;Wir haben immer mal wieder Menschen, die durch das Raster fallen, was kein böser Systemwille ist, aber eine Fehleinschätzung kann immer passieren. Für die Bundeswehr will ich das nicht verhehlen, aber es ist sehr selten. Insgesamt haben wir ein sehr fürsorgliches System.“

Die Bundeswehr hat rund 450.000 Soldaten ins Ausland geschickt. Etwa 2750 davon hat sie als PTBS-krank anerkannt. Doch die Dunkelziffer ist riesig. Nimmt man eine Bundeswehrstudie als Grundlage, kommt man auf 13.000 Erkrankte. Zimmermann weiß aber auch, dass die Bundeswehr längst nicht alle Erkrankten erreicht: &bdquo;Wir können mit 10 bis 20 Prozent nicht zufrieden sein. Eine psychische Erkrankung, die über eine längere Zeit schwelt, ist immer noch behandelbar, aber es wird nicht leichter. Ein schneller Behandlungsbeginn ist definitiv leichter für eine Heilung.“

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