Leverkusen/Blomberg. Lange sah es danach aus, dass die Karriere von Linda Stahl bei den Europameisterschaften in Amsterdam endet. Die Blombergerin, die für Bayer Leverkusen startet, bewies aber Nervenstärke, verbesserte im letzten Versuch ihre diesjährige Bestmarke um über zwei Meter - auf 65,25 Meter. Silber. Und was noch viel wichtiger war: Die Speerwerferin löste das Ticket für die Olympischen Spiele.
"Ich wusste, dass ich raus sein würde, wenn ich nicht noch einen raushaue", blickt die 30-Jährige zurück: "Ich wusste aber auch, dass ich es drauf habe. Die ersten fünf Würfe waren nicht so schlecht, doch es hatte nicht alles zusammen gepasst."
Linda Stahl kam in Steinheim zur Welt und wuchs in Blomberg auf. 2003 wechselte sie von ihrem Heimatverein LG Lippe-Süd zu Bayer Leverkusen. Medizin studierte sie in Köln und Leverkusen, 2014 bestand sie das
letzte Staatsexamen und erhielt ihre Approbation als Ärztin. Ihre größten Erfolge: Bronze bei Olympia 2012 in London, Gold bei der EM in Barcelona 2010. Seit 2013 engagiert sich die Ausnahmeathletin als
Vizepräsidentin des Kreissportbundes Lippe, obwohl sie in Leverkusen lebt. Hier arbeitet sie als Ärztin in der Klinik für Urologie.
Die äußeren Bedingungen mit wechselndem Wind von vorne und hinten waren schwierig. So verpasste die Deutsche Meisterin und damit sichere Rio-Fahrerin, Christin Hussong (Zweibrücken), bereits das EM-Finale. Für Weltmeisterin 2015, Katharina Molitor (ebenfalls Leverkusen), bedeutete der letzte Wurf von Stahl schließlich das Olympia-Aus: "Das war mir in dem Moment gar nicht bewusst."
Der Bundesausschuss für Leistungssport entschied sich neben Hussong und Stahl für Christina Obergföll (Offenburg). Und das, obwohl die Weltmeisterin von 2013 die EM-Teilnahme nach einem enttäuschenden vierten Platz bei den Deutschen in Kassel verpasst hatte. "Ich war nur froh, dass ich aus der Nummer raus war. Die genauen Nominierungskriterien kenne ich gar nicht, doch die Entscheidung ist offenbar auch juristisch nicht anfechtbar", spricht die Blombergerin "von einer enormen Belastung für uns alle".
Früh in der Saison mussten alle Topleistungen zeigen, denn schon lange war klar: Eine der vier ambitionierten Speerwerferinnen, die allesamt eine Medaille bei dem Großereignis gewinnen können, bleibt diesmal zuhause. Es traf die Weltmeisterin. Mit einer einstweiligen Verfügung gegen den Deutschen Olympischen Sportbund scheiterte die 32-Jährige.
Die Ärztin Linda Stahl, die sich wegen Olympia für fünf Monate vom Klinikum in Leverkusen beurlauben ließ, brauchte nach der erfolgreichen Rio-Quali erstmal ein Pause. Den geplanten Start bei der Diamond League in Monaco eine Woche später sagte sie ab, flog stattdessen für ein paar Tage nach Sylt. Von der Nordseeinsel ging es dann direkt weiter ins Trainingslager nach Kienbaum.
Stahl kennt das Bundesleistungszentrum seit einem Jahrzehnt. Schon so lange gehört die Europameisterin von 2010 zur Weltspitze: "Es ist alles da: Der Trainingsplatz liegt direkt um die Ecke. Nun bin ich total fokussiert auf Rio." Am Sonntag, 7. August, geht es von Frankfurt ins Olympische Dorf in die zweitgrößte Stadt Brasiliens. Die Speerwurf-Qualifikation ist am 16. August, das Finale zwei Tage später: "Dahin habe ich es immer geschafft." So lautet natürlich auch diesmal zunächst das Ziel: "Ich möchte meine Leistung abrufen, mindestens 64 Meter sollten es schon sein. Ob das dann zu einer Medaille reicht, werden wir sehen."
Linda Stahl fliegt als Fünfte der Weltjahresbesten-Liste nach Rio de Janeiro, vor vier Jahren lag sie auf Position zwölf und gewann Bronze in London: "Noch einmal Olympia lautete das letzte große Ziel. Nun bin ich dabei und lehne mich natürlich nicht zurück." Schon vor Wochen hatte die Spitzenspeerwerferin betont, dass sie nach dieser Saison ihre Karriere beendet, um sich voll auf ihren Job zu konzentrieren.
Im Olympischen Dorf teilt sie sich vermutlich ein Zimmer mit Hammerwerferin Kathrin Klaas, die ebenfalls von Helge Zöllkau trainiert wird. Linda Stahl: "Ich bin sehr froh, dass mein Trainer eine Akkreditierung bekommen hat. Nach dem Aus von Molitor, die er ebenfalls betreut, stand das auf der Kippe. Wenn ich eine Medaille gewinne, bleibt er sogar ein paar Tage länger, damit wir gemeinsam feiern können." Es wäre ein Traum-Karriereende, nachdem Stahl einem Trauma nur knapp entging.