Detmold/Tokio. Als nach über sechs Stunden das Endergebnis feststand, war Dagmar Jarosch erst einmal "sprachlos vor Freude". Am heimischen Computer hatte sie verfolgt, wie sich ihre Tochter Nadine, Schülerin aus Detmold, bei der Turn-WM im mehr als 9.000 Kilometer entfernten Tokio mit der deutschen Mannschaft Platz sieben und damit das Ticket für die Olympischen Spiele 2012 in London sicherte.
"Weihnachten ist gerettet", war einer der ersten Gedanken, die Dagmar Jarosch kurz darauf durch den Kopf schossen. Denn im Falle eines Misserfolgs hätte Nadine einen Großteil der Feiertage statt bei ihrer Familie wohl im Leistungszentrum des Deutschen Turner-Bundes (DTB) in Kienbaum verbringen müssen, um sich auf die zweite Chance im Januar in London vorzubereiten. Dies bleibt der 16-Jährigen nun erspart.
Überraschender noch als das beste Ergebnis einer deutschen Frauenmannschaft seit der Wiedervereinigung war die Tatsache, dass die jüngste deutsche Turnerin im Kreise der Olympiazweiten Oksana Tschusowitina und Vize-Europameisterin Elisabeth Seitz keinesfalls eine Nebenrolle spielte, sondern entscheidend zum Erfolg beitrug. Mit dem Gesamtergebnis von 55,55 Punkten, das nur 0,4 Punkte unter ihrer persönlichen Bestmarke lag, war Nadine Jarosch hinter Seitz, die am Stufenbarren ein nun nach ihr benanntes neues Element präsentierte, zweitbeste DTB-Starterin und zog als 16. der Gesamtwertung ins Finale der 24 besten Mehrkämpferinnen ein. "Nadine hat sich in die Weltspitze geturnt", konstatierte Jaroschs Heimtrainer Michael Gruhl, der die deutsche Auswahl in der japanischen Hauptstadt an der Seite von Bundestrainerin Ulla Koch betreut.
Vor 3.500 Zuschauern erwischte die Elftklässlerin des Detmolder Grabbe-Gymnasiums einen optimalen Start in den "bislang besten Wettkampf ihrer Karriere" (Gruhl): Am Boden stand sie alle Akrobatikteile inklusive der Dreifachschraube auf den Punkt und nahm mit 14,00 Punkten zeitweise sogar Kurs auf das Gerätefinale.
Noch höher griffen die Kampfrichter am Sprung: 14,20 Zähler war ihnen Jaroschs Rondatsprung gestreckt mit eineinhalbfacher Schraube wert. Sichere Übungen am Stufenbarren (13,60) und dem "Zitterbalken" (13,70) rundeten den tadellosen Gesamtauftritt der Wertheranerin ab.
Riesige Freude und Bewunderung löste Nadine Jarosch damit auch bei Hans-Joachim Dörrer aus. "Ich verbeuge mich vor dir und deiner Leistung", schrieb der Leiter des Landesleistungszentrums Detmold in einer E-Mail an seinen Schützling. "Du hast deinen Anspruch, gut zu turnen, mehr als eingelöst und kannst nun die restlichen WM-Tage genießen."
In der Tat: Bundestrainerin Ulla Koch spendierte ihren Turnerinnen zur Belohnung einen trainingsfreien Sonntag, den diese mit einem Kamera-Dreh für die ARD-Sportschau und dem Anfeuern der deutschen Männer verbrachten. Am Dienstag (12 Uhr MEZ) geht es für die DTB-Frauen mit dem Mannschaftsendkampf weiter, am Donnerstag stehen Jarosch und Seitz im Mehrkampffinale (11 Uhr MEZ). Zum Abschluss der WM am Samstag kämpft Altmeisterin Tschusowitina im Sprungfinale um eine Medaille. Für die 36-Jährige wäre die Reise nach London im Sommer 2012 verbunden mit der sechsten Olympiateilnahme, mit der sie einen Weltrekord für Turnerinnen aufstellen würde.
Nadine Jarosch indes steht vor einer Premiere. Nach dem starken Debüt bei der Heim-EM im April in Berlin, Platz drei bei der DM Ende August in Göppingen und dem aktuellen Erfolg von Tokio blickt sie auf ein nahezu perfektes erstes Jahr bei den Seniorinnen zurück. Hält ihr Höhenflug an, hat sie beste Aussichten, 28 Jahre nach Leichtathletin Christina Sussiek die nächste Wertheranerin zu sein, die beim größten Sportereignis der Welt dabei ist.