Der Kanzler als Krisendiplomat: Scholz auf Friedensmission in Nahost

Olaf Scholz steigt über die kurze Leiter aus dem Hubschrauber aus und geht erst einmal zum Cockpit. Die Aktentasche in der linken Hand, winkt er mit seiner rechten dem Luftwaffe-Piloten zu. Ein Dank für den Acht-Minuten-Flug vom Kanzleramt zum militärischen Teil des Flughafens. So viel Zeit muss sein an diesem Tag zwischen Himmel und Hölle. Er hat für den Bundeskanzler früh in Berlin mit Bemühungen um eine Deeskalation des neuen Nahost-Konflikts begonnen und wird auch damit in der Nacht in Kairo enden.

Dazwischen ist Scholz in Israel. Es dürfte die bisher wichtigste Reise in seiner Amtszeit sein. In jenes Land, dem Deutschland Schutz geschworen hat. Jenes Deutschland, in dem Nazis die Vernichtung der Juden und Jüdinnen betrieben und Generationen später Bundeskanzlerin Angela Merkel Israels Sicherheit zur deutschen Staatsräson erklärte. Mehr geht nicht.

Aber was bedeutet heute die historische Verantwortung, die Deutschland wegen der von den Nazis in ganz Europa sechs Millionen ermordeten Juden hat? Im Ernstfall? Also jetzt? Oder ist es eher eine Floskel?

Was Deutschland Israel als erstes schuldig ist, will Scholz in Tel Aviv klarmachen: volle, unzweifelhafte und sofortige Solidarität. Mitfühlen, Verständnis, humanitäre, medizinische und militärische Unterstützung aus Deutschland für den angegriffenen Staat – das liegt auf der Hand. Der Überfall der Hamas am 7. Oktober war das schlimmste Blutbad in der Geschichte des Staates Israel. Mehr als 1.400 Menschen kamen ums Leben, Angehörige von mindestens 199 Familien wurden von der Hamas verschleppt.

Sderot gleicht einer Geisterstadt Seit jenem 7. Oktober ist der Krieg in Israel allgegenwärtig, für Orte wie Sderot gilt das besonders. Die Kleinstadt liegt in unmittelbarer Nähe zum Gazastreifen, hier hört man die israelische Artillerie, die die Hamas-Stellungen hinter den Sperranlagen beschießt. Drohnen kreisen über der Region.

Vor der erwarteten Bodenoffensive der israelischen Armee im Gaza-Streifen haben die Behörden die Bewohner zur Evakuierung aufgerufen. Sderot gleicht einer Geisterstadt, von den einst 30.000 Menschen sind nur noch wenige Tausend übrig. Fast alle Geschäfte sind geschlossen, die meisten Wohnungen sind verwaist, kaum jemand ist zu sehen. Die Müllabfuhr kommt nicht mehr, Abfall türmt sich am Straßenrand, Gestank wabert durch die Gegend.

Bei dem Hamas-Angriff am 7. Oktober drangen Terroristen auch nach Sderot ein, wahllos erschossen sie Zivilisten. Sie verschanzten sich in der Polizeistation und lieferten sich stundenlange Gefechte mit den israelischen Sicherheitskräften, die die Wache schließlich dem Erdboden gleichmachten. In den Straßen daneben liegen noch zahllose Patronenhülsen, die von den schweren Kämpfen zeugen.

Der Iron Dome fängt nicht alle Raketen ab Seit dem 7. Oktober beschießt die Hamas Sderot immer wieder mit Raketen, nicht alle davon kann der Iron Dome abfangen, der Raketen-Schutzschirm der Israelis. Rachel DAntonio übernachtet deswegen mit ihrem Ehemann im Wohnzimmer, das Schlafzimmer liegt in der Richtung, aus der die Raketen kommen, in der Nachbarschaft sind bereits mehrere Häuser getroffen worden.

Die 58 Jahre alte Englisch-Lehrerin gehört zu jenen, die Sderot nicht verlassen wollen – trotz des Beschusses und trotz der Sorge, dass die Hamas-Terroristen zurückkehren könnten. &bdquo;Natürlich habe ich Angst davor“, sagt DAntonio. &bdquo;Aber ich weigere mich zu gehen, das ist mein Zuhause.“

DAntonio ist voller Wut auf die Hamas und ihre Unterstützer, die sie &bdquo;Tiere“ nennt. &bdquo;Sie sind wie ein Krebsgeschwür und müssen ausgemerzt werden“, fordert sie. Das einzige Ziel der Hamas sei es, Juden zu töten. Die Palästinenser im Gazastreifen hätten die Möglichkeiten gehabt, ihr Leben zu verbessern – und hätten diese Chance vertan.

Die Fronten sind verhärtet Viele Palästinenser sehen das naturgemäß anders, sie machen Israel für ihr Leid verantwortlich. Die Fronten sind verhärtet. Bei Vergeltungsschlägen Israels infolge der Hamas-Angriffe kamen nach Angaben aus dem Gazastreifen mehr als 2.800 Palästinenser ums Leben. Für Kritik sorgt, dass Israel den Gazastreifen nach den Hamas-Angriffen abgeriegelt hat und damit auch Zivilisten Leid zufügt.

Das Palästinenserhilfswerk UNRWA warnte am Dienstag vor einer drohenden Wassernot für die mehr als zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens. Zudem würden die Treibstoffreserven für die Stromgeneratoren in den Krankenhäusern nur noch für weitere 24 Stunden reichen. UNRWA-Generalsekretär Philippe Lazzarini sagte bereits am Sonntag: &bdquo;Der Gazastreifen wird stranguliert, und es scheint, dass die Welt im Moment ihre Menschlichkeit verloren hat.“

Die israelische Regierung erwartet von Deutschland derzeit am ehesten dies: Rückendeckung für den Gegenschlag. Und arabische und westliche Länder erwarten von Scholz, dass er auf Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu einwirken möge, die geplante Bodenoffensive im Gazastreifen verhältnismäßig auszuführen. Nach unschuldigen Zivilisten in Israel dürfen jetzt nicht unschuldige Zivilisten in Palästinensergebieten getötet werden.

Scholz will an der Spitze der Krisendiplomatie stehen Bisher hat Israel wohl Drohnen vom israelischen Typ Heron TP und Munition für Kriegsschiffe angefragt. Scholz hat Israel bereits zugesagt, alles an Hilfe zu leisten, was erbeten wird. Aber würden dazu deutsche Bodentruppen zählen? Scholz mag keine Was-wäre-wenn-Fragen. Auch diese stellt sich im Moment nicht. Im Moment.

Scholz will an der Spitze der Krisendiplomatie stehen. Er hat bereits zwei Mal mit Netanjahu telefoniert, mit US-Präsident Joe Biden – der am Tag nach dem Scholz-Besuch in Israel erwartet wird – hat er noch am Montag gesprochen. Außerdem ist der Kanzler mit den Staatschefs von Katar, Ägypten und der Türkei in Kontakt gewesen. Für seine Israel-Ägypten-Reise sagte er die Kabinettssitzung am Mittwoch ab. Vor seinem Abflug empfing er am Dienstagmorgen in Berlin den jordanischen König Abdullah II. Der Besuch war lange geplant. Nun aber geht es um den neuen Krieg in Nahost.

Ägypten riegelt den Grenzübergang Rafah ab Jordaniens Außenminister Ayman Safadi formulierte zuvor scharf, Israel habe eine &bdquo;rote Linie“ überschritten, weil es die palästinensische Bevölkerung im Norden des Gazastreifens zur Flucht aufgerufen habe. Das sei ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht, der weder Sicherheit noch Frieden bringen werde. &bdquo;Das wird die Region in die Hölle des Krieges stürzen.“ Der Kanzler nutzt das Treffen mit dem König so: &bdquo;Ich warne noch mal ausdrücklich die Hisbollah und den Iran, nicht in den Konflikt einzugreifen.“ Der König betont die Notwendigkeit humanitärer Hilfe, um das Leid der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten zu lindern.

Hunderttausende Palästinenser fliehen in den Süden des Gazastreifens, während die israelische Luftwaffe ihre Bombardements gegen die Hamas im Norden fortsetzt. Ägypten riegelt den Grenzübergang Rafah ab. Weder kommen Flüchtlinge heraus noch dringend benötigte Hilfe hinein. Ägypten fürchtet, dass die Flüchtlinge auf Dauer bleiben würden und die wirtschaftliche Lage erschweren könnten. Außerdem ist nicht sicher, ob unter ihnen nicht auch Hamas-Terroristen wären.

Angehörige deutscher Geiseln setzen ihre Hoffnung in den Kanzler Scholz hat noch eine weitere Aufgabe, sie gehört zu den schwersten einer Regierung überhaupt. Auch er muss alles versuchen, damit die Hamas ihre Geiseln freilässt. Viele der Verschleppten haben neben der israelischen noch eine weitere Staatsbürgerschaft. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes gibt es auch insgesamt acht deutsche Vermisstenfällen, wobei ein Fall mehrere Familienmitglieder einschließen könne.

Die betroffenen Länder wollen Verhandlungen ohne Vorbedingungen. Aber oft wird bei Geiselnahmen so oder so am Ende ein hoher Preis gezahlt. Mit Geld oder Leben. Angehörige deutscher Geiseln setzen ihre ganze Hoffnung in den Bundeskanzler, den sie am Dienstag persönlich in Tel Aviv treffen wollten.

Wie geht es weiter, auch wenn die Hamas ausgeschaltet werden sollte? Das wisse Israel wohl selbst noch nicht, heißt es. Eine Zwei-Staaten-Lösung ist in weiteste Ferne gerückt. Selbst innerhalb Deutschlands werden Hamas-Sympathisanten und manche Palästinenser ihren Hass auf Juden lange nicht aufgeben. Die Bundesregierung muss das unterbinden. Auch das gehört zur deutschen Staatsräson.

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