Kallas-Verfolgung durch Russland: Warum steht sie auf der Fahndungsliste?

Gnadenlos verfolgt die russische Regierung Kritiker im eigenen Land, bloße Kritik am Kriegskurs von Präsident Wladimir Putin wird mit drastischen Gefängnisstrafen geahndet. Dieses Prinzip maßloser Verfolgung weiten die russischen Behörden jetzt aus - auch über die eigenen Landesgrenzen hinaus.

So wurden am Dienstag Estlands Regierungschefin Kaja Kallas und andere hochrangige internationale Politiker zur Fahndung ausgeschrieben. &bdquo;Das sind die Leute, die feindliche Handlungen gegenüber dem historischen Andenken und unserem Land unternommen haben“, begründete Kremlsprecher Dmitri Peskow. Die baltischen Staaten bestellten am Mittwoch russische Geschäftsträger ein, reagierten darüber hinaus aber gelassen.

Gegenwärtig fahndet Russland nach insgesamt 96.752 Personen, wie die offizielle Datenbank des russischen Innenministeriums verrät. Darunter sind Hunderte Ausländer, vor allem ukrainische Soldaten sowie in der Internationalen Legion dienende Ausländer. Auch 160 osteuropäische Politiker, Parlamentsabgeordnete und Beamte sind in der Datenbank zu finden. Sie kommen aus Estland, Litauen, Lettland, Polen und der Ukraine. Und: Mindestens 134 Einträge betreffen deutsche Staatsbürger, wie &bdquo;t-online“ berichtet, überwiegend Soldaten.

Deshalb steht Kallas im Fokus Russlands Die 46-jährige Kaja Kallas ist, neben Estlands Staatssekretär Taimar Peterkop und Litauens Kulturminister Simonas Kairys, die prominenteste Person auf der Liste. Doch warum? Im Westen ist Kallas als liberale Demokratin beliebt, die sehr früh vor den Gefahren einer russischen Invasion warnte und die Ukraine bis heute konsequent unterstützt.

&bdquo;Insgesamt hat sich die Transformation der ehemaligen Sowjetrepubliken hin zu modernen europäischen Staaten im Baltikum in den vergangenen 30 Jahren politisch und wirtschaftlich sehr liberal und moderat vollzogen, auf schrille nationale Töne wurde verzichtet“, so Reinhard Krumm, Leiter des Regionalbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Riga, gegenüber dieser Redaktion.

&bdquo;Kaja Kallas, relativ jung, aber noch in einem Estland geboren, das zur Sowjetunion gehörte, darauf weist ausdrücklich auch die russische Fahndung hin, verkörpert das Bild der baltischen Resilienz gegen Moskau per excellence“, sagt Krumm, der auch langjähriger dpa-Korrespondent im Baltikum war. &bdquo;Das begründet auch ihre Beliebtheit im Westen, während die anderen beiden baltischen Staaten Litauen und Lettland derzeit nicht so eine strahlende Gallionsfigur haben“, so Krumm.

Kallas bleibt bei ihrer Positionierung Dass ausgerechnet Kallas die ungeteilte Wut des Kreml trifft, könnte laut Krumm auch daran liegen, dass Estland über die größte russische Minderheit der drei Baltenrepubliken verfügt. Gut ein Viertel der rund 1,3 Millionen Esten haben russische Wurzeln, vor allem im Grenzgebiet zu Russland rund um die Stadt Narva.

&bdquo;Die russischsprachigen Esten sind aber keine homogene Gruppe und erfüllen auch bislang die von Russland gehegten Erwartungen überwiegend nicht, im neuen Estland als angeblich diskriminierte Minderheit für Unruhe zu sorgen. Gut möglich, dass sich der Kreml erhofft, mit der Ausschreibung der estnischen Regierungschefin zur Fahndung die Gräben im Land zu vertiefen“, so Krumm.

Kaja Kallas meldete sich noch am Dienstag im sozialen Netzwerk X, bezeichnete die Ausschreibung zur Fahndung als &bdquo;nicht überraschend“. &bdquo;Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass ich das Richtige tue – die starke Unterstützung der EU für die Ukraine ist ein Erfolg und schadet Russland“, schrieb sie.

Die Geschichte der baltischen Staaten Die Juristin ist die Tochter des ehemaligen estnischen Ministerpräsidenten und EU-Kommissars Siim Kallas. Seit 2020 ist sie Mitglied der estnischen Reformpartei, die Reinhard Krumm politisch als &bdquo;liberal“ verortet. 2014 wurde Kallas Abgeordnete im Europäischen Parlament. 2021 wurde sie erstmals Ministerpräsidentin, seit dem Zerbrechen ihrer Koalition regiert sie geschäftsführend.

Russland bezichtigt die Politikerin der &bdquo;Schändung des historischen Gedächtnisses“. Die russischen Behörden werfen den Balten den Abriss sowjetischer Kriegsdenkmäler vor. Rückblick: Nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches 1918 ertrotzten die drei baltischen Staaten als auch Polen ihre Unabhängigkeit von Russland, verloren diese aber wieder 1939 durch den Pakt zwischen Hitler-Deutschland und Josef Stalins Sowjetunion.

Nach der wiedererlangten Freiheit infolge des Zerfalls der UdSSR gehörten die Balten zu den eifrigsten Befürwortern einer EU- und Nato-Mitgliedschaft. Unter den drei wirtschaftlich erfolgreichen Baltenrepubliken ist Estland der Musterknabe, hat heute eine innovative IT-Industrie, ein vorbildliches Schulsystem, einen hohen Digitalisierungsgrad, den höchsten Wohlstand der drei Länder.

Gegen Putin liegt ebenfalls ein Strafbefehl vor &bdquo;So sehr Kallas außenpolitisch im Land auf Rückendeckung zählen kann, so gibt es innenpolitisch doch auch Kritik an ihr. Estland hat seit der Corona-Pandemie wirtschaftlich gelitten, sozialpolitisch hat die Regierung Kallas viel Unmut auf sich gezogen, viele Mitarbeiter estnischer Unicorns (Start-ups mit hohem Börsenwert - d. Red.) vermissen neue Perspektiven“, so Reinhard Krumm von der FES.

Gut möglich, dass es sich bei der russischen Fahndungsliste auch um eine Retourkutsche Moskaus handelt: 2023 erließ der Internationale Strafgerichtshof im niederländischen Den Haag einen Strafbefehl gegen Putin wegen der mutmaßlichen Entführung ukrainischer Kinder nach Russland. Das hat Folgen: Putin kann seitdem viele Staaten nicht mehr besuchen. Moskau musste das als Kränkung auffassen, denn umgehend erließ der Kreml Haftbefehl gegen den IStGH-Präsidenten, den polnischen Juristen Piotr Hofmanski sowie dessen deutschen Kollegen Bertram Schmidt.

Kallas-Verfolgung durch Russland: Warum steht sie auf der Fahndungsliste?

Baltische Staaten lösen sich aus russischem Stromnetz

Russische Kampfjets verletzten estnischen Luftraum

Lettland und die Verbindung zum Westen und Lippe

Litauen meldet Luftraumverletzung durch russische Flugzeuge

Russische Jets über Estland: Beratung im UN-Sicherheitsrat

EVP-Chef: Wir brauchen starke europäische Luftverteidigung

Lippische Landes-Zeitung: Nachrichten aus Lippe, OWL und der Welt

Weiterlesen mit LZplus!

0,99 Euro im ersten Monat

Weiterlesen mit LZplus