Männer im Krieg: Wie ukrainische Frauen die Schwerindustrie in Gang halten

Viktorias Arbeitsplatz liegt 480 Meter unter der Erde. Was für die meisten Menschen ein Horror wäre, ist für die 31-Jährige die Erfüllung eines Traums. Wenn Viktoria mit einem Förderkorb in die Tiefe fährt, trägt sie Schutzkleidung und einen Sauerstoff-Selbstretter, also ein Atemgerät für den Notfall. Der Aufzug ächzt und knarzt auf dem Weg, Wasser tropft von oben auf den Helm. Unten angekommen, fährt Viktoria mit einer kleinen Bahn, deren niedrige Waggons man nur gebückt besteigen kann, eine knappe Viertelstunde lang durch die Stollen, bis sie schließlich angekommen ist.

Viktoria arbeitet in einem Bergwerk von DTEK, dem größten privaten Energieunternehmen der Ukraine, im Donbass, dem Steinkohlegebiet im Osten des Landes. Der genaue Ort darf aus Sicherheitsgründen ebensowenig genannt werden wie die Nachnamen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Werks. Von Ost nach West erstreckt sich die Grube des Werks über 15 Kilometer, die Stollen summieren sich auf eine Länge von mehr als 100 Kilometer. Seit der Gründung des Bergwerks vor 45 Jahren war die Arbeit unter Tage Männern vorbehalten – bis der Krieg das änderte.

Die anachronistischen Arbeitsgesetze der Ukraine aus dem Jahr 1971 verbieten es grundsätzlich, Frauen unter gefährlichen Bedingungen oder unter Tage arbeiten zu lassen. Solange Kriegsrecht gilt, ist dieses Verbot ausgesetzt. Männer fehlen in der ukrainischen Schwerindustrie an allen Ecken und Enden. Viele sind ins Ausland oder innerhalb der Ukraine geflohen. Vor allem aber sind etliche von ihnen bei der Armee und kämpfen gegen die russischen Besatzer. Weil es in den Streitkräften dramatisch an Soldaten mangelt, werden immer mehr Männer eingezogen. Ihre Positionen werden zunehmend von Frauen wie Viktoria besetzt.

Viktoria ist die erste Frau in ihrer Familie, die unter Tage arbeitet

In dem Bergwerk werden Frauen wegen weiterhin geltender arbeitsrechtlicher Vorschriften zwar nicht unmittelbar beim Kohleabbau eingesetzt. Dennoch arbeiten dort inzwischen 120 von ihnen unter Tage – ihre männlichen Vorgänger sind allesamt eingezogen worden.

Viktoria sitzt an einem Schaltpult und steuert von dort aus eine Grubenbahn, mit der Material in den Stollen gefahren wird. Sie arbeitet seit zwölf Jahren in dem Werk, bis Oktober war sie in verschiedenen Funktionen ausschließlich an der Oberfläche beschäftigt. &bdquo;Ein Job unter Tage war immer mein Wunsch“, sagt die 31-Jährige. &bdquo;Endlich habe ich diese Chance bekommen.“ Es sei eine Herausforderung für sie gewesen. &bdquo;Ich habe mich gefragt, kann ich denselben Job wie Männer machen? Ich habe festgestellt, dass ich es kann“, sagt Viktoria. &bdquo;Und ich merke, wie wichtig es ist, dass ich dabei helfe, die Wirtschaft am Laufen zu halten, während die Männer das Land verteidigen.“

Auch ihr Großvater, ihr Vater und ihr Bruder seien Bergleute, sagt Viktoria. Sie sei nun die erste Frau in der Familie, die es ebenfalls unter die Erde geschafft hat. Besonders stolz sei ihr sieben Jahre alter Sohn auf sie. &bdquo;Er ist immer neugierig, was meinen Job angeht. Ich sage ihm dann, du musst eine Arbeit haben, die du wirklich magst. So wie ich.“

&bdquo;Unter der Erde schlagen keine Raketen ein“ Viktoria lernt gerade eine Kollegin an, Olha ist auf ihrer dritten Schicht in dem Stollen. Die 47-Jährige sagt, sie möge die Atmosphäre unter Tage. &bdquo;Hier ist es sicher. Unter der Erde schlagen keine Raketen ein.“ Ob die Frauen auf den angestammten Männerjobs Diskriminierung durch ihre Kollegen erfahren? &bdquo;Nein“, antwortet Viktoria. &bdquo;Wir sind hier wie eine große Familie.“

Ihr Abteilungsleiter Maksim sagt, Bergarbeiter aus Teams ohne Frauen fragten ihn, wann sie endlich Kolleginnen bekämen. Von den einst 140 Mann aus seiner Abteilung seien bislang 35 eingezogen worden. Vier davon seien mit Frauen ersetzt worden, drei weitere Kolleginnen seien derzeit in der Ausbildung.

Der gefährliche Job im Stahlkonzern bringt gutes Geld Bei den Werken des Stahlkonzerns Metinvest in der Industriestadt Krywyj Rih ersetzen ebenfalls immer mehr Frauen Männer, die im Krieg sind. Am Arbeitsplatz von Alyona Bezkrovna ist es düster und heiß, laut und dreckig. Die 37-Jährige arbeitet weit über der Erde: auf einem etwa 50 Meter langen Metallsteg, den man über Dutzende Stufen erreicht.

Neben dem schmalen Steg drehen sich gigantische Trommeln, in denen gemahlenes Eisenerz zu Pellets gerollt wird – kleine Kugeln, die bei der Herstellung von Roheisen verwendet werden. Bezkrovna ist dafür zuständig, dass die Produktion der Kügelchen an dieser Stelle reibungslos läuft. Mit einem Hochdruckgebläse entfernt sie gerade Ablagerungen an den Trommeln.

Bezkrovna macht den Job seit Januar. Während sich für Viktoria mit der Arbeit unter Tage ein Traum erfüllt hat, geht es bei ihr um weniger idealistische Gründe: Ihr früherer Job habe kaum genug Geld abgeworfen, um ihren behinderten Sohn versorgen zu können, sagt sie. &bdquo;Hier gibt es ein gutes Gehalt und einen sicheren Arbeitsplatz.“

Eisenerz-Staub und glühend heiße Luft

Es ist hart verdientes Geld. Überall im Werk ist grauer Eisenerz-Staub – in der Luft und auf dem Boden, auf den Treppen und auf den Maschinen. Nachdem die Pellets die Trommeln neben Bezkrovnas Steg verlassen, transportieren Förderbänder sie in einen gigantischen Ofen, in dem sie bei 1.300 Grad gebrannt werden. Die Anlage aus deutscher Produktion stammt aus dem Jahr 1978, sie verbreitet ohrenbetäubenden Lärm und stößt glühend heiße Luft aus.

Wenn Bezkrovna in ihrer Zwölf-Stunden-Schicht eine Pause macht, kann sie sich in eine kleine fensterlose Kammer zurückziehen, in der eine Mikrowelle und ein Wasserkocher stehen. An der Wand hängen eine Uhr und ein Bild von einem Blumenstrauß. Danach geht es zurück auf den Steg, auf dem sie alleine ist. Die schwierigen Umstände schrecken Bezkrovna nicht. &bdquo;Ich habe es keine Sekunde bereut, diesen Job angenommen zu haben“, sagt sie. &bdquo;Ich verstehe, dass Männer dazu gebraucht werden, unser Land zu verteidigen.“

Andrii Shcherbak ist Personalchef für drei Metinvest-Werke in Krywyj Rih, in denen bis zum russischen Überfall im Februar 2022 insgesamt mehr als 15.000 Menschen gearbeitet haben, jetzt sind es noch 10.500. Berufe wie Maschinenführer, Elektriker, Dreher oder Förderband-Techniker seien früher Männerdomänen gewesen, sagt Shcherbatk. Inzwischen würden in den drei Werken insgesamt mehr als 400 Frauen auf solchen Positionen eingesetzt.

&bdquo;Sie machen ihre Arbeit gut, manchmal besser als Männer“, sagt der Personalchef. &bdquo;Ohne sie hätten wir unsere Produktion deutlich herunterfahren müssen.“ Da wegen des Krieges auf absehbare Zeit immer weniger Männer zur Verfügung stünden, setze man verstärkt darauf, Frauen auch auf diesen Posten einzustellen.

Temperaturen bis zu 60 Grad unter Tage

Die Firma Interpipe in der zentralukrainischen Stadt Dnipro leidet ebenfalls unter Arbeitskräftemangel. Vor dem russischen Einmarsch haben hier 11.500 Mitarbeiter unter anderem Stahlrohre und Eisenbahnräder produziert, heute sind es 2000 weniger. &bdquo;Obwohl wir angefangen haben, vermehrt Frauen einzustellen, fehlen uns Arbeitskräfte“, sagt Personalchefin Viktorya Savchenko. &bdquo;In manchen Bereichen sind bis zu 40 Prozent der Stellen unbesetzt.“

In der Halle, in der Eisenbahnräder hergestellt werden, steuert Fedorenko Vita (47) seit einem halben Jahr den Deckenkran. Sie hat einen Anteil daran, dass die Räder bei den Bahnen auf der ganzen Welt rollen: Nach Konzernangaben stammt jedes dritte Eisenbahnrad weltweit aus dem Werk, in dem Vita arbeitet.

Glühende Metallblöcke laufen auf einem Band in haushohe Maschinen, die sie mit Schlägen und Druck in Form bringen. Automatisierte Greifarme holen das immer noch glühende Metall vom Amboss und legen es aufs nächste Band, zur Kühlung wird Wasser gespritzt. Es zischt, Dampfschwaden steigen auf. Am Ende des Prozesses stehen silbern glänzende Räder.

&bdquo;Es war ein bisschen sonderbar, einen Job anzunehmen, den sonst Männer machen“, sagt Vita. &bdquo;Ich bin nicht mehr jung, aber ich bin auf dieser Stelle ziemlich effizient.“ Die Arbeit sei anstrengend, wozu die Hitze beitrage. &bdquo;Es kann hier drinnen bis zu 60 Grad heiß werden.“ Draußen sind es an diesem Abend noch 28 Grad, in der Halle zeigt das Thermometer 43 Grad.

Arbeitskräftemangel dürfte in der Ukraine noch zunehmen Anders als Vita ist Alevtina Verda schon seit acht Jahren bei Interpipe. Ihr hat der Arbeitskräftemangel einen unerwarteten Karrieresprung beschert: Die 48-Jährige ist seit eineinhalb Jahren Schichtleiterin bei der Produktion von Eisenbahnachsen. Der Mann, der den Job davor hatte und den Verda früher nur in dessen Urlauben vertreten durfte, ist inzwischen bei der Armee.

Schichtleiter seien hier bis zum Krieg ausschließlich Männer gewesen. &bdquo;Mein Ehemann war überrascht, dass Frauen auf einmal so weit aufsteigen können“, sagt Verda – zudem er selbst bei Interpipe auf einer niedrigeren Position gearbeitet habe, bis auch er in den Krieg zog. &bdquo;Es ist gut, dass Jobs, die für Männer reserviert waren, für Frauen geöffnet wurden“, meint die Schichtführerin. &bdquo;Nicht gut ist, dass der Auslöser dafür der Krieg ist.“

Mit den zunehmenden Einberufungen wegen des Krieges, dessen Ende nicht absehbar ist, dürfte sich der Arbeitskräftemangel in der Schwerindustrie noch zuspitzen. Interpipe-Personalchefin Savchenko sagt, die Zahl der männlichen Bewerber habe schon mit Inkrafttreten des Mobilisierungsgesetzes im vergangenen Monat weiter abgenommen.

Angesichts des drastischen Mangels an Soldaten verschärft das Gesetz die Regeln zur Erfassung von wehrfähigen Männern, von denen aber längst nicht alle in den Krieg ziehen wollen. Manche meiden daher Orte, wo ihnen ein Einberufungsbefehl zugestellt werden kann – was zum Beispiel auf der Arbeitsstelle möglich ist.

Savchenko sagt, nach dem Gesetz könnten bei Betrieben wie Interpipe bis zu 50 Prozent der männlichen Mitarbeiter eingezogen werden. &bdquo;50 Prozent können wir zurückhalten. Ich befürchte, das reicht uns nicht.“ Interpipe wäre bereit, Geld dafür zu bezahlen, Arbeiter auf Schlüsselstellen im Werk zu behalten, sagt sie – wenn eine entsprechende gesetzliche Regelung dafür geschaffen würde. Sollte irgendwann tatsächlich die Hälfte der Männer fehlen, &bdquo;könnte das dazu führen, dass wir unsere Operation einstellen müssten.“ Denn so viel Leistung die Mitarbeiterinnen auf den einstigen Männerjobs auch bringen würden: &bdquo;Es wäre unmöglich, diesen Mangel mit Frauen auszugleichen.“

Mitarbeit: Yurii Shyvala

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