Nach 40 Jahren Pflege: „Sie tun alles – und bekommen dafür nur einen Tritt in den Hintern"

Blomberg. &bdquo;Wir können so viel lernen von den Menschen mit Behinderungen. Von ihrem Humor, ihrer Lebensfreude.“ Das sagt Uwe Rautenberg, Vater der 43-jährigen Maraike. Sie ist zu 100 Prozent schwerbehindert, blind, Spastikerin, leidet unter epileptischen Anfällen. Seine Frau Bärbel und er haben ihr Leben der Fürsorge ihrer Tochter gewidmet. Die beiden tun das gern, voller Liebe – und ziehen doch ein frustrierendes Fazit ihres jahrzehntelangen Einsatzes: "Sie tun alles – und sie bekommen dafür nur einen Tritt in den Hintern." Mit &bdquo;Sie“ meint Uwe Rautenberg seine Frau und sich, und die, die sie treten, das seien die Behörden, die Krankenkassen.

Bärbel und Uwe Rautenberg wissen ihre Tochter MaraikeTochter gut im Blindenheim Heidenoldendorf aufgehoben - "was sie uns immer wieder durch ein zufriedenes Lächeln zeigt". Doch sie sind beide um die 70, die Kräfte lassen nach. Eine Konsequenz: Sie holen die Tochter nur noch alle vier statt alle zwei Wochen, bei Krankheit und im Urlaub nach Hause. Aber der Kontakt bleibt eng, montags, mittwochs und am Freitag begleiten die Eltern sie zur Therapie. "Die Reittherapie in Bavenhausen ist eine geliebte Abwechslung."

Meterlange Reihen mit Prozessakten Die beiden haben sich über die Jahre in Sozialgesetze und Regelungen eingefuchst, manchen Strauß vor Gericht ausgefochten. Vieles begreifen die Eltern dennoch nicht. Meterlang sind die Aktenreihen im Regal. Prozesse, Anträge, Widersprüche. Briefe an den Petitionsausschuss des Bundestages mit der Forderung, benachteiligten Menschen und deren Angehörigen mehr Entlastungen und Ausnahmeregelungen einzuräumen, bleiben unbeachtet. Dabei könnte so vieles einfacher sein, sind sie überzeugt.

Beispiel Reha: "Unsere Tochter bekommt eine siebenwöchige Reha, genehmigt von der Krankenkasse mit Begleitperson für die gesamte Dauer." Sie pflegen und betreuen die Tochter, bringen sie zu den Therapien, gestalten Freizeit und die Wochenenden. "Wir schaffen ein optimales Umfeld für den Erfolg der Rehamaßnahme einer völlig hilflosen Patientin." Das Sozialgesetz schreibt nun aber Pflegegeld für nur 28 Tage vor, danach muss die Klinik den Patienten pflegen können. "Es gibt keine Ausnahmeregelungen. Unsere Tochter hat keine Sprache, kann sich nicht anders verständigen, muss gefüttert, gewaschen, gewickelt, überwacht, zu den Therapien gebracht und abgeholt werden. Sie hat ein Recht auf Teilhabe am sozialen Leben. Wir machen das, auch wenn die zweite Person den Aufenthalt selbst finanzieren muss." Warum werde denn dann überhaupt eine Begleitperson bewilligt? Warum müsse eine hilflose Person in einer fremden Umgebung nach vier Wochen von fremden Menschen gepflegt werden? Warum achte keiner auf die Kosten?

Die Ärzte raten: Keine Medikamente ändern! Beispiel Medikation: &bdquo;Wir wissen, dass Maraike auf die kleinste Veränderung stark reagiert“, sagt Uwe Rautenberg. Sie sei sehr gut eingestellt. Jetzt streiten sich die Eltern mit der Krankenkasse über 14 Euro im Jahr für die Zuzahlung eines von drei Anfallsmedikamenten - trotz einer Zuzahlungsbefreiung. &bdquo;Ja, die Kassen dürfen, wenn möglich, auf günstigere Medikamente ausweichen, wenn die Wirkstoffe übereinstimmen." Das weiß er. Aber: "Selbst wenn der Wirkstoff übereinstimmt, es gibt Zusatzstoffe, über die Wichtigkeit der Darreichungsform wird nicht nachgedacht. Die Ärzte raten uns, dringend, nichts zu verändern." Ihnen gehe es nicht um die 14 Euro, die die Krankenkasse übernehmen müsste. Da ihre Tochter eine kleine Rente beziehe und für ein zweites Medikament auch zugezahlt werden müsse, werde die Rente noch weniger. Aber: "Wenn wir das durchkriegen, kriegen andere das auch durch."

Beispiel Windeln: Maraike Rautenberg hat einen gesetzlichen Anspruch, bezahlt von den Krankenkassen mit 25,23 Euro/Monat. Diese Pauschale ist - die LZ berichtete - zu Jahresbeginn gesenkt worden, es gibt nun weniger Windeln. Die Konsequenz: Die Tochter muss nachts erneut gewickelt werden. Bärbel Rautenberg schlägt vor, aufnahmestärkere Windeln zu benutzen, die seien nur unwesentlich teurer, machten aber weniger Arbeit, eine Windel pro Nacht werde eingespart und reduziere den Stress für die Tochter. Aber die Kasse lehnten dies ab. "Das leuchtet doch keinem ein."

Beispiel Beratung: Die Eheleute wünschen sich, besser von den Krankenkassen oder den Behörden über Angebote und Ansprüche informiert zu werden. Es komme von dort nichts oder zu wenig, sie müssten sich alle Informationen selbst zusammensuchen. "Aber warum erfahren wir von der Möglichkeit einer Angehörigen-Reha erst, nachdem wir unsere Situation dem Minister geschildert hatten? Das wissen bis heute die wenigsten." Alles drehe sich nur um "Kosten, Kosten, Kosten".

Die Eltern tun durchaus was für sich, besuchen Selbsthilfegruppen. Der Vater hat einen Taxischein gemacht und ein Gewerbe angemeldet, um die Tochter selbst fahren zu können. Doch sie werden älter, und ihr Fazit ist bitter: "Behinderte haben keine Lobby."

Behindertenbeauftragter erwartet mehr Sensibilität für den Einzelfall Michael Meier ist Behindertenbeauftragter des Kreises Lippe. Er war beim Besuch der Familie Rautenberg auf Bitten der LZ mit dabei und hat ihnen aufmerksam zugehört. Er zieht den Hut: "Angehörige wie sie leisten jeden Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr viel, sehr viel. Sie klagen nicht, streiken nicht für mehr Unterstützung, sie machen klaglos ihren Job und das mit viel Liebe und Zuneigung!" Auch das Ehepaar Rautenberg mache ja schon alles Menschenmögliche für ihre Tochter. "Aber sie stoßen dabei leider immer wieder an die gesetzlichen Grenzen" Er könne daher keine direkten Tipps geben. Aber eines sei klar: Ohne Angehörige würde das ganze Pflegesystem zusammenbrechen.

"Und es ist richtig, dass Sie die Dinge nicht so akzeptieren, wie sie sind" versichert er den Eltern. Er gibt ihnen recht, und das will er in seine politische Arbeit einbringen: "Die zutragenden Hilfen sind wichtig." Von den Kranken- und Pflegekassen wünscht sich Meier mehr Sensibilität für den Einzelfall. Da sollte am anderen Ende des Telefons mehr Einsicht herrschen, wie den betroffenen Menschen geholfen werden kann; mehr Einsicht zu den Konsequenzen, wenn sie Kleinigkeiten für den täglichen Bedarf ablehnen. So müsste beispielsweise die Arbeit des Pflegestützpunktes Lippe offensichtlich noch mehr beworben und auch ausgebaut werden. Dort bieten die Kranken- und Pflegekassen in Kooperation mit dem Kreis Lippe bei Bedarf eine ausführliche Beratung an - im Haus der AOK in Detmold, aber im Wechsel an bestimmten Tagen in allen lippischen Kommunen und auch zu Hause. www.pflegestuetzpunkt-lippe.de

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