Detmold. „Wild ist besser als Bio“, sagt Theo Sürmann und lacht. Ja, sie wollen durchaus ein wenig provozieren. Gemeint sind der 24-jährige Theo und sein 31 Jahre alter Bruder Paul Sürmann. Mit ihrem Start-up Wild AF haben sie sich eine große Mission auf die Fahne geschrieben: Regionales Wildfleisch für jeden erfahrbar zu machen. Triggerwarnung: Im folgenden Artikel werden Bilder und Beschreibungen der Zerlegung toter Tiere gezeigt. Nach Detmold hat es das Brüderpaar im vergangenen Jahr verschlagen. „Wir haben beide unsere Jobs gekündigt und dann innerhalb von acht Wochen im gemeinsamen Urlaub die Gesellschafterverträge unterschrieben“, erzählt Theo Sürmann. Eine fixe Idee? Mitnichten. „Ungefähr sechs Jahre haben wir daran geplant.“ Vorher haben die beiden Brüder, die eigentlich aus dem Odenwald stammen, in ganz anderen Berufen gearbeitet. „Ich war im Venture Capital-Bereich“, sagt Theo Sürmann. Bei seinem Arbeitgeber ging es um Investments in nachhaltige Start-ups. Bereits da sei ihm klar gewesen, perspektivisch will er Gründer sein. Sein Bruder Paul hat in der erweiterten Einzelhandelsbranche gearbeitet. Von der Idee zur Wildmanufaktur Die Firmengründung in Detmold war der Sprung ins kalte Wasser - auch weil beide zu der Zeit im Ruhrgebiet wohnten. In die Residenzstadt zog es sie aus einem einfachen Grund: Per Anzeige fanden sie hier die passenden Räume und entschieden sich schnell, alles auf eine Karte zu setzen. Theo und Paul Sürmann sind keine Quereinsteiger. „Wir haben mit 15 Jahren unsere Jagdscheine gemacht“, sagt Theo Sürmann. „Bei uns zu Hause gab es, wenn es denn Fleisch gab, immer Wild. Wir kannten das gar nicht anders.“ Ob Frikadellen, Tacos oder Hack-Käse-Lauch-Suppe - „mit Wild kann man alles machen“. Sürmann ist überzeugt von ihrer Mission. Die Idee: Einen Wildzerlegungsbetrieb gründen, der völlig transparent Wildfleisch aus der Region ankauft, verarbeitet und auf den Markt bringt. Und das funktioniert so. Jäger, die erfolgreich von der Jagd kommen, schreiben eine Whatsapp-Nachricht an die Nummer von Wild AF. Automatisch erhalten sie eine Antwort, die Anweisungen und einen Schlüsselcode enthält. Nun fährt der Jäger zum Firmensitz der Wildzerleger, kann dort mit dem erhaltenen Code das Tor zur 24-Stunden-Annahme öffnen und die geschossenen Tiere dort aufhängen. Auf einem bereitliegenden Wildursprungsschein füllt er Details zur Jagd aus - etwa, ob das Tier Verhaltensstörungen vor der Jagd aufgewiesen hat oder eine Erstuntersuchung beim Entweiden und Auffälligkeiten gezeigt hat - und entscheidet hier, was mit dem Fleisch passieren soll. So funktioniert die Wildannahme Jäger können das Tier hier einfach nur zerlegen lassen und sich die portionierten Teile wieder abholen - dieses Modell heißt in der Fachsprache „Lohnzerlegung“. Wer einen Nachweis als „kundige Person“ aufweisen kann - das ist eine Zusatzausbildung, die es dem Jäger erlaubt, Wildbret einer ersten Untersuchung zu unterziehen -, kann sein erlegtes Wild auch an das Unternehmen verkaufen. Neben der Anlieferung holt das Wild-AF-Team auch Tiere ab, meist von Forstämtern im erweiterten Umkreis um Detmold. 87 Jäger seien es derzeit, die ihr Wildbret dem jungen Start-up anvertrauen. Jung ist es in der Tat, denn erst seit vergangenem Herbst läuft hier in der Van-Melle-Straße die Produktion. „Wir haben hier einen ehemaligen Halal-Fleischerei-Betrieb übernommen“, sagt Theo Sürmann. Viel vom Equipment konnten sie übernehmen - und auch einen Mitarbeiter. Der kümmert sich um die eigentliche Zerlegung der Tiere, während Theo Sürmann vor Ort die Produktionsabläufe und den Werksverkauf regelt. Bruder Paul ist mit seiner Familie in Köln geblieben und ist von dort aus für die Software und das Warenwirtschaftssystem zuständig. Ein kleines Team mit großen Ambitionen: „Unser Ziel ist es, irgendwann ganz Deutschland mit Wildfleisch zu versorgen“, sagt Theo Sürmann. Aber, dass dieses Ziel nicht von heut auf morgen erreicht werden kann, ist ihm auch bewusst. „Wir wollen nachhaltig wachsen, gemeinsam mit unseren Kunden, und uns nicht die Preise von Großmärkten diktieren lassen.“ Zur Finanzierung dieses Projekts geht das Start-up jetzt immerhin einen großen Schritt weiter, sie haben jüngst die Zusage über eine Förderung des Landes NRW bekommen. Verarbeitung mit System und Sorgfalt Als Theo Sürmann an diesem Mittwoch das Tor der Annahme aufsperrt, hängen hier drei Tiere, zwei Rehe und ein Wildschwein. „Im Moment sind es etwa 60 Stück in der Woche, die wir hier verarbeiten.“ Eine gute Auslastung für den kleinen Betrieb - zumal der Juni auch alles andere als Hochsaison für die Jagd ist. Von der Annahme geht das Fleisch in die Kühlkammer. Aber hier ist Hygiene-Bereich, penibel wird darauf geachtet, dass Straßenkleidung und Haare völlig abgedeckt, Hände und Schuhe desinfiziert sind. Kühle 3 Grad herrschen in der Kammer, in der etliche Wildschweine und einiges an Rotwild hängt. Nach und nach werden sie verarbeitet - zunächst das Fell abgezogen, dann kommt das Veterinäramt zur Fleischbeschau und bestätigt mit einem Stempel den tadellosen Zustand. Über ein ausgefeiltes Schienensystem werden die Haken, an denen das Wildbret hängt, in die Zerlegungskammer geschoben. Hier stellt Mitarbeiter Hasan Kilie sicher, dass dunkle Stellen oder blaue Flecken, die durch den Einschuss entstanden sind, großzügig entfernt werden. Dann wird ausgebeint, portioniert und das Fleisch ist beinahe bereit, um in den Verkauf zu gehen. Der ganze Prozess wird digital begleitet: „Wir erfassen jeden Jäger mit einer systemeigenen Reviernummer, daran ist auch die Postleitzahl des Jagdgebiets gekoppelt“, erklärt Theo Sürmann. Diese Chargennummer begleitet das Wild auf dem gesamten Weg durch die Produktion - und landet am Ende auf dem Etikett im Verkauf. Digitale Rückverfolgbarkeit bis zum Teller „Wir können auf bis zu fünf Tiere genau nachvollziehen, woher das Fleisch kommt.“ Das bedeutet: Der Endkunde kann einen QR-Code auf der Produktverpackung abscannen, gibt dann auf einer Internetseite die Chargennummer ein, die unter dem Code abgebildet ist und bekommt per Mail Informationen darüber, wo das Tier erlegt wurde. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist das in Detmold und Umgebung - „wir holen aber auch von Forstämtern aus Arnsberg und dem Sauerland ab“, sagt Sürmann. Diese Art des sogenannten „Trackings“ ist ein Alleinstellungsmerkmal des jungen Unternehmens. „Rechtlich muss nur die Tagesproduktion als Charge festgehalten werden“ - das können in großen Betrieben auch mehrere Hundert Tiere sein. Hier lässt sich deutlich präziser sagen, woher das Stück Fleisch auf dem Teller kommt. Und die Technik ist noch nicht am Ende: „Wir arbeiten immer weiter daran, so transparent wie möglich zu sein.“ Bratwurst, Burger & Bio-Preise Der Vertrieb läuft derzeit über einen kleinen Werksverkauf im Firmengelände sowie die Lebensmittel-Lieferer Wochenmarkt24 und Flink. Die Verkaufsschlager: „Bratwürste und Burgerpatties“. Für die Herstellung solcher verarbeiteter Lebensmittel setzt das Unternehmen auf einen Partnerbetrieb im Sauerland, ein Metzger, der dort in gleichbleibender Qualität für sie produziert. Und das Gerücht, dass Wild so teuer ist? „Preislich liegen wir da ziemlich gleich auf mit Bio-Rind“, sagt Sürmann. Das wichtigste Geschäft für das junge Unternehmen macht derzeit aber die Gastronomie aus. Einige renommierte Häuser aus der Spitzengastronomie beziehen ihr Wild bei dem Unternehmen, auch aus Detmold setzen bereits zwei Restaurants auf die Produkte der Wildzerleger.