Notarztwache in Detmold: Das Rettungsteam bewegt sich zwischen Medizin und Menschlichkeit

Detmold. Das Blaulicht heult nur ganz sanft auf, als wäre es Kilometer weit weg. Dabei sitzt die Sirene nur wenige Zentimeter entfernt auf dem Dach des Notarzteinsatzwagens. Auf der Straße weichen einige Autos zurück. Manche fahren umsichtig, andere scheinen leicht überfordert. Wie im Rausch geht diese erste Einsatzfahrt von Detmold nach Augustdorf vorbei. Am Ende lassen sich die Eindrücke kaum festhalten.

Zurück bleiben weder Zeitgefühl noch ein Überblick darüber, wie viele rote Ampeln Notfallsanitäterin Steffie Borries auf dem Weg zum Einsatzort überfahren hat. &bdquo;Es waren drei“, sagt sie später in einer ruhigen Sekunde. Sie muss bei ihren Fahrmanövern jederzeit das Risiko abwägen. &bdquo;Ich kann nicht mit 150 an einem Kindergarten vorbeifahren, nur weil ich einen Einsatz habe.”

Borries hat das Steuer fest in der Hand, ihr Blick geht konzentriert auf die Straße. Trotzdem bleibt nebenbei Zeit für einen Plausch mit ihrem Partner. Dr. Markus Flentje, Chefarzt der Anästhesie am Klinikum Lippe, sitzt als diensthabender Notarzt auf dem Beifahrersitz. Beide sind gut gelaunt.

Etwa acht Stunden wird die Reporterin das Duo auf dem Sitz im Rückraum begleiten. Der Platz ist sonst für Azubis reserviert. Zwischen Fahrerin und Beifahrer herrscht ein vertrauter Umgangston, das Team scheint eingespielt zu sein. &bdquo;Im Rettungsdienst duzt man sich“, erklärt Steffie Borries am Rande. Das gehöre dazu.

Irgendwie einleuchtend, denn &bdquo;Retter“ unter sich müssen einander blind vertrauen. Anders würde der Job nicht funktionieren. Selbst als Außenstehende lässt sich das schnell nachfühlen. Es dauert nicht lang, dann fühlt sie sich als Teil des Teams.

Reguläre Schicht dauert 12 Stunden Regulär dauert eine Schicht auf der Notarztwache am Klinikum in Detmold zwölf Stunden. Zehn davon werden im Rettungsdienst bezahlt. Jede Sekunde muss das Team eben bereit sein. Manchmal gibt es Leerlauf. Langweile bedeutet das trotzdem nicht.

Für die diensthabenden Kolleginnen und Kollegen gibt es genug Aufgaben abseits der Straße. Dazu zählt, den verschlossenen Betäubungsmittel-Schrank zu kontrollieren, medizinische Produkte aufzufüllen, Wäsche zu sortieren und das Auto regelmäßig zu waschen. Neben all dem Lebenretten muss auch das sein.

Eine Handvoll Male rücken wir an diesem &bdquo;ganz gewöhnlichen Donnerstag“ bis zum späten Nachmittag aus. Durchschnittlich fährt das erste von den zwei in der Wache am Klinikum stationierten Notarzteinsatzfahrzeugen (NEF) sieben Einsätze pro Tag. Knapp 51.000 Rettungsfahrten gibt es laut Statistik jährlich in ganz Lippe. In etwa 15 Prozent der Fälle war der Notarzt allein im Jahr 2023 mit dabei.

Die Einsatzzahlen hätten in den vergangenen Jahren stark zugenommen, erklärt Teamleiter Markus Hülsiggensen beim ersten Begutachten des Notarzteinsatzfahrzeugs. Überhaupt habe sich der Rettungsdienst stark verändert. Die Arbeit sei anspruchsvoller geworden, die damit verbundene Technik filigraner - und die Verantwortung größer.

Seine Wachleiterin Steffie Borries (45) kennt hier jeden Stein. Seit 25 Jahren ist die Detmolderin für den Rettungsdienst des Kreises Lippe im Einsatz. &bdquo;Ich könnte mir niemals vorstellen, etwas anderes zu machen“, sagt Borries. Sie sei die erste ausgebildete Notfallsanitäterin in Lippe gewesen.

In ihrer Stimme schwingt Hingabe mit. Der Job scheint mehr Berufung zu sein als alles andere. An ihr wirkt das authentisch, fast ansteckend. Selbst früh morgens um kurz nach 8 Uhr.

Das Gebäude selbst ist zweckmäßig, nur etwas in die Jahre gekommen. Wenn das sorgfältig sortierte medizinische Inventar kontrolliert wird, müssen Steffie Borries und ihre Kollegen das Rolltor offen stehen lassen und den Wagen etwas weiter vorne parken. Sonst ist nicht genug Platz, um den Kofferraum zu öffnen.

Im Sommer kommen die bestellten und moderneren Notarzteinsatzfahrzeuge. Kommendes Jahr soll der Neubau für die neue Wache beginnen. Das steht aber noch nicht ganz fest. Während der Bauzeit ist geplant, die Wache vorübergehend in Containern unterzubringen.

Verdacht auf Herzinfarkt Dann wird es ernst. Kaum ist das blaue Rettungsdienst-Polohemd übergestreift, die Arbeitshose hochgezogen und die grüne Presse-Weste griffbereit abgelegt, da ruft der Melder zum ersten Einsatz. 23 Minuten sind seit der Begrüßung vergangen. Die ersten Infos hat Steffie Borries direkt aus der Leitstelle parat. Es geht um einen internistschen Notfall in einer Hausarztpraxis in Augustdorf. Verdacht auf Herzinfarkt. Los geht’s.

Sie lässt die Kaffeetasse – wie so oft an diesem Tag - unberührt stehen. Unzählige Heißgetränke sind auf der Detmolder Wache wohl schon einsam abgekühlt oder gar nicht erst in die Tasse geflossen. Jede Sekunde zählt, wenn das Piepen losgeht. Schließlich kann es um Leben und Tod gehen.

Innerhalb von 60 Sekunden muss der Notarzteinsatzwagen die Wache verlassen haben, das ist die Vorgabe von Chef Daniel Fischer, Leiter des Rettungsdienstes im Kreis Lippe. Während der Nachtschicht darf es maximal 90 Sekunden dauern.

Für die erfahrenen Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter sind die zeitlichen Vorgaben kein Problem. Alles Routine, jeder Handgriff sitzt. Wer sich nicht auskennt, der bekommt beim Piepen des Meldeempfängers leichtes Herzklopfen. Die Nervosität steigt, der Puls wird schneller. Widerwillig lassen sich die Sicherheitsschuhe schnüren. Wie geht das mit der Schleife gleich noch mal?

Die Notrufe landen zu allererst bei der Leitstelle des Kreises, von dort wird alles koordiniert. Der Disponent entscheidet, ob &bdquo;nur“ der Rettungswagen (RTW) herausfährt - oder der Notarzt/die Notärztin ebenfalls gebraucht wird.

Notarzt sieht Arbeit als sinnstiftend Wenige Sekunden später steht Dr. Markus Flentje oben am Krankenhauseingang und steigt dazu. Flentje hat seit Oktober den Chefposten der Anästhesie am Klinikum Lippe inne. Weiter als Notarzt zu arbeiten, sieht er als Herzensangelegenheit. Für ihn ist die Arbeit sinnstiftend.

&bdquo;Wir treffen oft Entscheidungen, die unumkehrbar sind.” Und dabei käme man den Menschen so nah wie nirgendwo sonst. Mit all den dazugehörigen Komplikationen. &bdquo;Man muss Menschen mit all ihren Eigenarten mögen.“

Bei jedem Einsatz zählten zentrale Fragen. &bdquo;Was können wir vor Ort besser machen? Was können wir behandeln?” In manchen Fällen komme das Retter-Team an seine Grenzen. Teils liege das einfach am Setting, wenn der Patient oder die Patientin schlecht erreichbar sei. &bdquo;Dann muss man mitunter kreativ werden.”

Die Hausarztpraxis in Augustdorf zählt nicht zu solchen schwierigen Einsatzorten. Eine jüngere Frau klagt hier über Schwindel, fühlt sich schlapp. Im Rettungswagen kontrolliert Dr. Flentje den Herzschlag. Der Blick fällt auf die Kurve des EKGs. Zwei kurze Ausschläge hintereinander sind nicht normal, erklärt er später.

Der Einsatz offenbart auch andere Probleme: Die Ungleichheit der Geschlechter spiegelt sich im Gesundheitswesen wieder. &bdquo;Gerade bei Frauen bleibt ein Herzinfarkt oft unentdeckt, weil sie andere Symptome haben.” Das habe die Medizin lange ignoriert. Oft verschleppten Patientinnen die ersten Anzeichen, warteten ab, bis der Hausarzt nach dem Wochenende die Praxistür öffnet. Das könne gefährlich sein.

Beide Frauen, die der Notarzt an diesem Tag mit Verdacht auf Herzinfarkt behandelt, scheinen Glück zu haben. Während Flentje eine Patientin im RTW begleitet, berichtet Steffie Borries über ihren Alltag. Sie habe schon das Gefühl, dass der Umgangston Rettungskräften gegenüber rauer geworden sei. Aber eigentlich könne man hier zufrieden sein. Zwar will sie Situationen nicht abstreiten, in denen sie sich bedroht gefühlt habe. Aber: &bdquo;Es kommt immer auf die Situation an. Manche Menschen sind einfach überfordert.”

Der Kaffee bleibt kalt Wieder auf der Rettungswache angekommen, muss die Notarztsanitäterin offenbar nur das Wort &bdquo;Kaffee“ aussprechen, schon dröhnt ein Piepsen durch die Halle. Ein Klassiker. Diesmal geht es gekonnter in die Sicherheitsschuhe, Dr. Markus Flentje steht bereit. Auch er hat den Kaffee nicht geschafft.

Das nächste Ziel ist ein Altenheim in Pivitsheide. Der Zustand einer Bewohnerin ist offenbar kritisch. Sie hat Wasser in der Lunge. Der gesamte Körper ist so sehr aufgeschwemmt, dass er das Wasser wieder über die Haut abgibt. Daneben ist der Blutdruck der Frau zu hoch, ihr Zustand für das Personal besorgniserregend.

Im Kleiderschrank hängt eine Patientenverfügung griffbereit. Der nicht anwesende Sohn will unbedingt, dass seine Mutter ins Krankenhaus kommt. Nach Rücksprache mit dem Hausarzt haben die Pflegekräfte daher den Notarzt gerufen.

Weil die Patientin 190 Kilo wiegt, hat der Rettungsdienst bereits den Schwerlast-Krankentransportwagen aus Paderborn angefordert. Anders könne die Frau nicht transportiert werden, die reguläre Trage schaffe das nicht, sagt Stefan Heim. Er ist Rettungsdienstler und Feuerwehrmann. Durch die Arbeit kennt er Steffie Borries schon seit 20 Jahren. Damals habe man die Tragen noch ganz klassisch mit viel Körpereinsatz genutzt, erinnern sich beide. Jetzt seien die Modelle technisch hoch entwickelt und größtenteils automatisch.

Die Patientin selbst will überhaupt keine Trage. Für sie ist jeder Transport mit einer Tortur verbunden. Sie spricht leise, nur langsam setzen sich ihre Worte zu Sätzen zusammen. Rettungskräfte und Pflegepersonal stehen um ihr Bett versammelt, manche ziehen sich auf den Flur zurück. Es scheint nicht klar, was passiert.

Notarzt bei Einsatz: &bdquo;Sie wird sterben“ Der Notarzt blickt in die Akte und holt die Pflegekräfte dann zu sich. &bdquo;Sie wissen, dass dies hier endlich ist”, sagt er. &bdquo;Sie wird sterben, ob in einem halben oder in einem Jahr. Das ist unumkehrbar.” Seine Worte scheinen für das Personal nachvollziehbar zu sein, bei dem schlechten Allgemeinzustand der Patientin hätten sie jedoch reagieren müssen.

Nach einem Telefonat mit dem Hausarzt ist Flentje fest entschlossen, die Patientin nicht aus ihrem gewohnten Umfeld zu reißen. Die Rücksprache sei wichtig gewesen, erklärt er, schließlich kennt er die Frau nicht wie ihr Hausarzt. Als Notarzt geht ihm das immer so – das macht es nicht einfacher. Jetzt kommt die nächste Hürde dazu: Der Sohn der Bewohnerin muss per Telefon überzeugt werden.

Es gelingt ihm. Was sie besprechen, bleibt privat. Die Rettungsdienst-Kollegen aus Paderborn kommen in der Sekunde gerade an und müssen die Schwertransporttrage ohne Patientin zurück zur Rampe schieben. Oft komme das nicht vor, der Abbruch sei aber kein Problem. Schließlich arbeiten die Kreise in OWL im Rettungsdienst eng zusammen.

Das Bestmögliche erreichen &bdquo;Das war wenig medizinisch, sondern mehr Sozialarbeit”, fasst Flentje zusammen. Die Situation stehe stellvertretend für ein Phänomen, das dem Notarzt immer wieder begegnet. &bdquo;Angehörigen fällt es oft sehr schwer, loszulassen.“ Menschlich sei das nachvollziehbar. Im Rettungsdienst selbst dürfe man sich nicht von &bdquo;Emotionen leiten lassen”, sondern müsse das Bestmögliche für den Patienten oder die Patientin erreichen.

Das Team muss an diesem Mittag noch zu einem weiteren vermuteten Herzinfarkt in Detmold herausfahren. Die fünfte Einsatzfahrt bricht Notfallsanitäterin Borries mitten auf der B 239auf dem Weg nach Lage ab. Eine vor einer Drogerie zusammengebrochene Patientin mit Herzschrittmacher will doch keinen Notarzt mehr, heißt es aus der Leitstelle. Auch das kommt vor. Damit die anderen Verkehrsteilnehmer nicht völlig irritiert sind, zieht Borries den Einsatzwagen erst einmal aus dem fließenden Verkehr.

Zurück auf der Wache schafft es Borries irgendwann tatsächlich, mit dem Team einen Kaffee zu trinken. Zwischen all den Eindrücken dröhnt der Kopf. Für Notarzt und Notfallsanitäterin war es eher eine ganz normale Schicht. &bdquo;Ich finde es spannend, dass ich morgens nicht weiß, was mich erwartet”, sagt Borries. Der Tag hätte auch ganz anders laufen können.

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