Detmold. Ein rotes Kleid, ein leeres Blatt und eine Frau zwischen den Wegen: So deutet Regisseurin Vivien Hohnholz Giuseppe Verdis Opernklassiker „La Traviata“, der im ausverkauften Landestheater eine umjubelte Premiere gefeiert hat. „La traviata“ wurde im Jahr 1852 in Venedig uraufgeführt und fiel zunächst durch. Die Überarbeitung wurde zu einer der erfolgreichsten Opern der Musikgeschichte. Verdi stellt wie in „Rigoletto“ (1851) und „Il trovatore“(1853) eine von der Gesellschaft geächtete Person ins Zentrum. Die Bühne als Denkraum Eine Oper über eine Edelprostituierte, die in höheren Kreisen verkehrt und an Tuberkulose stirbt, war eine Provokation. Die Detmolder Inszenierung bleibt nicht im Historischen stecken. Das Publikum erlebte einen intensiven Opernabend, der die altbekannte Geschichte von Liebe, gesellschaftlicher Heuchelei und tödlicher Krankheit neu zum Schillern bringt. Barbara Steiners Bühne ist keine opulente Pariser Gesellschaftskulisse, sondern eine Drehbühne – karg, abstrakt, gleichsam Projektionsfläche des Betrachters. Die Dynamik der Drehbühne wird geschickt ausgekostet, etwa als Violetta sich wie die Puppe einer Spieluhr dreht. Hohnholz versteht die futuristische Bühne als weißes Blatt, auf das Violetta ihre Geschichte schreibt. Bunte Requisiten stechen hervor. Das Spiel mit Reduktion und Symbolen lässt viel Raum für die Figuren und Musik. Im Mittelpunkt steht Violetta im blutroten Kleid (Kostüme: Coline Meret Lola Jud), ein leuchtendes Zeichen der Selbstbehauptung, aber auch der Verletzlichkeit. Das ikonische Kleid taucht immer wieder auf und dient als Fassade einer aufgesetzten Euphorie, die innere Gefühle verdeckt. Kameras, Blitzlichter und Fotos stehen für eine erstarrte Gesellschaft, die vergeblich versucht, Leben zu konservieren. Alle glotzen im Freeze einmal gebannt auf ein Foto in der Hand – ein Symbol für eine Handy-Gesellschaft, die digital verblödet am Leben vorbeilebt. Später signalisieren Eselskostüme diese Dummheit. Eine Frau im Patriarchat „La traviata“ – wörtlich „die vom Weg Abgekommene“ – wird hier nicht moralisch gelesen, sondern als Suche nach Selbstbestimmung. Hohnholz betont das „tra viata“, das Dazwischen. Violetta ist keine gefallene Frau, sondern eine, die sich gegen gesellschaftlichen Druck stemmt – und letztlich daran zerbricht. Verdis Musik zeichnet sie in aller Reinheit. Sie steht zwischen einer oberflächlichen Pariser Spaßgesellschaft mit vielen Liebhabern, die für ihren Körper Geld bezahlen, und einem Idyll in der Provence im weißen Miniaturlandhaus, das viel zu eng ist, mit Tradition, Heimat und der Treue zu einem Mann. Sie beugt sich der bigotten Moral des Vaters und opfert ihre Liebe für die Familienehre. Unter dem Wort „Party“ zeichnet sie ein Kreuz und nimmt die ikonische Kreuzigungshaltung ein. Am Ende bleibt bewusst offen, ob sie an der Krankheit stirbt oder an einer Gesellschaft, die sie nicht erträgt. Sie bleibt lebendig tot, da sie bereits vorher durch gesellschaftlichen Druck ihre Identität und Liebe geopfert hat. Starke Stimmen, packende Musik Musikalisch erweist sich der Abend kraftvoll und differenziert. Generalmusikdirektor Per-Otto Johansson lässt das Symphonische Orchester des Landestheaters mit klaren Linien, aber auch mit klanglicher Wärme gefühlvoll spielen. Verdis Partitur entfaltet hier ihren Sog – von berauschenden Walzern bis zu intimen Momenten des Abschieds. In der Titelpartie zeigt Sopranistin Aleksandra Szmyd bei ihrem Detmolder Debüt große stimmliche Spannweite und Präsenz. Sie verbindet Leichtigkeit und Durchschlagskraft – besonders in den Koloraturen des ersten Aktes, aber auch in der Zerbrechlichkeit des Finales. Als ihr Liebhaber Alfredo überzeugt mit lyrischem Tenor Ji-Woon Kim kräftig und mühelos in der Höhe. Jonah Spungin als Giorgio Germont (der Vater Alfredos) beeindruckt mit sonorem Bariton und einer Mischung aus Strenge und väterlicher Wärme im strahlenden Timbre. In weiteren Rollen glänzen unter anderem Euichan Jeong, Lotte Kortenhaus, Boyoung Lee, Nikos Striezel und Hojin Chung. Der Opernchor unter Leitung von Francesco Damiani meistert die dichten Ensembleszenen souverän, besonders in den Fest-Szenen, die bei Hohnholz als groteske Maskenspiele erscheinen – Spiegel einer Gesellschaft, die amüsierte Oberflächlichkeit über Empathie stellt. Hohnholz gelingt eine „Traviata“, die ohne plakative Aktualisierungen auskommt und dennoch mitten im Heute verankert ist mit einer Violetta, die als öffentliche Frau an gesellschaftlichen Zwängen zerbricht.