Dieser junge Detmolder (24) riskiert sein Leben in der Ukraine. Warum?

Kreis Lippe / Lemgo. Bei seiner ersten Fahrt in die Ukraine landete Jason Jochem noch ohne Internet, mit großer Papierkarte aber ohne Kompass in einem Waldstück hinter einem Grenzübergang in der Provinz, verfuhr sich stundenlang mit dem geliehenen Bulli. Inzwischen ist der 24-Jährige ein wahrer Logistik-Profi - und hat einen eigenen alten Sprinter instandgesetzt. Zum Interview in einer Lemgoer Kaffeerösterei bringt er Hündin Bella mit: Er hat sie damals im Kriegsgebiet in einem desolaten Zustand gefunden und mit nach Hause genommen.

Jochem leitet den Verein &bdquo;Courage“ für Hospiz- und Trauerarbeit; die Geschäftsstelle ist in Bad Salzuflen, er selbst lebt in Detmold. Mittlerweile sind auch die Hilfseinsätze in der Ukraine als Vereinsziel eingetragen. Jochem bestellt einen Cappuccino; die Cafébesitzerin ist eine Freundin und hat zugunsten des Vereins eine Soli-Kaffeesorte aufgelegt: Ein Teil des Erlöses geht an Courage. Jochems aktuell größte Sorge: &bdquo;Den Sprinter nicht vollzubekommen“, nicht genug Spenden aufzutreiben, damit der nächste Transport - pro Strecke mehr als 2000 Kilometer - sich wirklich lohnt.

Herr Jochem, Sie wollen Ende Oktober zum vierten Mal an die Front reisen. Erinnern Sie sich an den Moment, als Sie damals den Entschluss gefasst haben?

Ich lag im Krankenhaus, als der Angriffskrieg startete. Im Zimmer lief der Fernseher, ich hörte die Nachrichten - und wusste sofort: Da muss ich helfen. Ich habe zur Krankenschwester gesagt: &bdquo;Ich fahre da hin.“ Das war kein Gedanke, der reifen musste, das war ein klarer Impuls. Und der ließ mich nicht mehr los. Die erste Reise war dann ein knappes Jahr später, 2023.

Wie haben Familie und Freunde reagiert?

Sorgen waren natürlich da, auch Versuche, mich abzuhalten. Aber jeder, der mich kennt, wusste, dass es nicht nur eine fixe Idee ist. &bdquo;Krass - aber gut und wichtig“, habe ich oft gehört. So kam nach und nach Unterstützung. Ein Freund von mir entwickelt ballistische Westen – er stellt mir jedes Mal einen Helm und einen Plattenträger zur Verfügung. Er sagt: &bdquo;Lieber tausend Euro weniger als einen Freund weniger.“

Sie hatten vorher keine Verbindung zur Ukraine, keine Kontakte?

Das hätte vieles leichter gemacht – aber nein. Es war wirklich so ins Blaue hinein. Ich habe einfach gegoogelt, Organisationen gesucht, stundenlang. Das war sehr, sehr schwierig, auch wegen der kyrillischen Schrift - und ich spreche kein Ukrainisch. Ich habe dann ein paar Deutsche angeschrieben, die auch dorthin fahren, und so Kontakte in Odessa bekommen. Die haben uns dann die Einreise erleichtert – ohne dass wir uns zuvor jemals gesehen hatten. Inzwischen haben wir einige Partnerorganisationen. Die haben Kontakte zu den Militärs, die wissen, wo kommen wir wann durch. Das Netzwerk ist immens wichtig.

Wie fühlt es sich an, wenn Sie dort sind?

Man ist nirgendwo wirklich sicher. Egal, ob im Westen oder in Frontnähe – Drohnen hört man fast überall. Die erste Nacht mit Luftalarm vergisst man nie. Darauf kann man sich nicht vorbereiten. Angst ist immer da. Aber sie ist auch ein guter Begleiter. Sie hält mich wachsam, ohne den Mut zu verlieren, Gutes zu tun.

Was hat Sie am meisten überrascht?

Ich hätte nie gedacht, dass es Menschen gibt, die an der Front leben. Meist stellt man sich Krieg ja so vor: Vorne sind die Soldaten, da wird gekämpft, und die Menschen dahinter sind in Sicherheit. Aber so ist es nicht. Die Menschen leben in Städten, wo teilweise noch gekämpft wird. Die wohnen drei, vier Kilometer von der absoluten Vernichtungsgrenze entfernt, oft in kompletter Zerstörung.

Sie haben selbst Angriffe miterlebt?

Ja. Drohnenangriffe, Luftangriffe. Gerade in der Region Donezk hört man Artillerie, manchmal sogar Straßenkämpfe – auch wenn die etwas weiter entfernt sind. Über manchen Straßen hängen Netze, die vor den kleinen Drohnen schützen sollen. Neben modernster Kriegstechnologie sieht man Munitionskisten mit sowjetischem Stern, uralte Lkws, auf denen Raketenwerfer montiert sind. Ich habe gedacht, ich mache eine Zeitreise. (Er greift zu einer Patronenhülse, die auf dem Tisch liegt.) Das hier ist eine Hülse von einem Geschoss, das auf ein Dorf abgefeuert wurde. Wir waren während des Angriffs dort. Manche Menschen schlafen in Zelten neben dem, was früher ihr Zuhause war.

Welche Begegnungen haben Sie besonders geprägt?

Da war dieser junge Mann in meinem Alter, ein Sonnenblumenbauer. Ein Drohnenangriff hatte sein Haus zerstört – und er lebt weiter in den Trümmern. Er stand vor mir und sagte: &bdquo;Ich habe nichts anderes.“ In Charkiw waren wir mal in einer Lagerhalle, als der Luftalarm losging. Und während die Sirenen heulten, standen die Menschen im Kreis und sprachen ein morgendliches Gebet.

Sind Sie religiös?

In der Notfallseelsorge und Trauerarbeit sehe ich Menschen in den schwersten Situationen. Meiner Erfahrung nach hilft es, wenn man an irgendetwas glaubt. Vielleicht ist es für mich nicht die Bibel als solche, aber wenn ich die Raketen höre, wenn wir in der Nähe der Front sind und ich denke, &bdquo;okay, es könnte knapp werden“, dann erwische ich mich dabei, dass ich ein Gebet spreche. Kein klassisches, aber so etwas wie: &bdquo;Bitte nicht wir“.

Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?

Wir starten oft in Odessa. Dort gibt es ein Kinderhospiz, viele Binnengeflüchtete, die wir mit Nahrung, Hygieneartikeln, Babynahrung oder Verbandsmaterial versorgen. Danach geht es weiter in Frontregionen wie Cherson oder in die Nähe von Bachmut. Da sind Dörfer, die liegen 30 Kilometer oder mehr von jeder anderen Stadt entfernt. Viele dort haben kein Auto, die Straßen sind nicht mal asphaltiert. Teilweise sind sie schwer krank. Haben sowieso kein Geld, vielleicht auch keine Familie mehr. Wo sollen sie denn hin? Es gibt dort keine Sozialversicherung so wie hier. Diesen Menschen bringen wir Wachskerzen, kleine Gasherde, Medikamente – alles, was Wärme, Licht und Überleben sichert.

Sind Hilfseinsätze wie Ihre nicht ein Tropfen auf dem heißen Stein?

Ja, und doch sind sie wichtig. Ich habe Menschen kennengelernt, Familien, die haben geweint vor Freude, wenn wir Essen bringen. Die sagen: &bdquo;Dass ihr da seid, ist für uns ein Signal, dass man an uns denkt. Das ist für uns ein kleines Licht der Hoffnung und ein kleines bisschen Frieden.“ Und das hat mich nie losgelassen: Zusammenhalt ist ein kleines bisschen Frieden.

Wenn Sie an die Ukraine denken – überwiegt für Sie die Not oder die Hoffnung?

Absolut die Hoffnung. Der Krieg ist nicht das Land. Die Menschen sind lebensfroh, sie tanzen, sie machen Musik. Ich denke an Kinder, die trotz allem spielen. Und an die vielen Menschen, die sagen: Wir geben unser Land nicht auf.

Hier in Deutschland gerät die Ukraine langsam aus den Schlagzeilen. Wie erleben Sie das?

Ich merke, wie ich, wenn ich erzähle, die Menschen wieder &bdquo;zurückholen“ muss. Natürlich passiert überall Schlimmes – aber wir dürfen nicht aufhören hinzusehen. Wenn ich in der Ukraine bin, erlebe ich, wie sehr diese Menschen kämpfen – auch für uns, für Werte wie Demokratie und Freiheit. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir hier vergessen, wie gut wir es haben. Wir regen uns zum Beispiel über Handys von Geflüchteten auf. Und ich denke nur: Lasst die Menschen doch ein Handy haben, damit sie ihre Familien erreichen können. Wir hier in Deutschland haben Krankenversicherung, wir haben Sicherheit. Wir sollten dankbarer sein.

Sie fahren diesmal zum ersten Mal allein. Ist das nicht eine andere Situation?

Ja, und ich habe gemischte Gefühle. Es ist einfach schön, wenn man jemanden hat, der während der Autofahrt ein bisschen erzählt und man sich gegenseitig supportet. Gerade auch in dieser Stresssituation an der Grenze, wo man nicht weiß: Komme ich rein, komme ich nicht rein? Da ist es gut, sich austauschen zu können.

Würden Sie auch eine neue Helferin, einen neuen Helfer mitnehmen?

Ich habe ein, zwei Leute, die sich das vorstellen könnten. Aber ich möchte auch, dass Menschen sich das gut überlegen, denn das Risiko, nicht wieder zurückzukommen, ist da. Und ich möchte nicht, dass dieser Punkt auf mein Konto geht. Ich weiß selber, wie das ist, wenn man einen großen Hilfeimpuls hat. Aber ich möchte das Gefühl haben, dass die Leute wissen, worauf sie sich einlassen.

Wann merken Sie nach einer Reise, dass die Anspannung abfällt?

Das ist ein fließender Übergang, je näher man zur Grenze kommt. Aber am schönsten sind Nächte ohne Luftalarm. Wobei man das nicht vergisst. Kennen Sie diese Schachett-Drohnen? Das sind diese großen Dreieckigen. Die haben hinten einen Zweitaktmotor, der klingt original wie ein Motorroller. Wenn jetzt bei mir daheim nachts entfernt ein Motorroller vorbeifährt, hört sich das so an wie eine Drohne. Es ist nicht so, dass man dann direkt in Panik verfällt, das nicht - aber die Erinnerung hat sich festgesetzt.

Wie gehen Sie um mit diesen Mikro-Traumata?

Indem ich darüber rede. Und indem ich mir erlaube, auch Angst zu haben. Das ist ja auch mein großes Thema bei Courage: Wir müssen über Gefühle sprechen. Am meisten aber, und das klingt vielleicht komisch, belastet mich nicht das, was ich dort sehe – sondern die Zeit davor.

Inwiefern?

Dieses Ringen um Spenden. Dieses Gefühl, dass die Ukraine aus den Schlagzeilen verschwindet. Dann heißt es: Ja, aber woanders gibt es auch Not. Natürlich gibt es das. Aber Armut bleibt Armut, auch wenn andere Menschen ebenfalls leiden. Zu sehen, wie schnell Menschen hier vergessen, das ist schwer auszuhalten.

Gab es für Sie schon mal den Moment, dass Sie gesagt haben: Ich traue mir nicht zu, noch mal hinzufahren?

Ich habe daran noch nie gezweifelt.

PERSÖNLICH Jason Maximilian Jochem ist Vorsitzender des Vereins Courage – Initiative für Sterbe- und Trauerbegleitung e.V. Mitgründer Kevin Kößler war ebenfalls schon mehrmals in der Ukraine. Jochem ist Rettungssanitäter, hat Erziehungswissenschaften studiert und arbeitet in der stationären Eingliederungshilfe für Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen. Nebenbei studiert er Psychologie.

In der Ukraine, insbesondere in den Frontregionen (z. B. Cherson, Donezk, Charkiw), packt er mit Freiwilligen vor Ort Überlebenspakete für Menschen, die aufgrund fehlender Infrastruktur oder gesundheitlicher Probleme sonst keinen Zugang zu Lebensmittel, Pflegeutensilien oder anderen Versorgungsgütern haben.

SPENDEN Kleiderspenden nur nach Rücksprache und aktuell ausschließlich guterhaltene und saubere Winterkleidung wie Pullover, Jacken, Stiefel, Decken. Abzugeben bei der Geschäftsstelle in Bad Salzuflen, Am Markt 38, oder bei Jochem in Detmold, Telefon 01517 / 214 48 42 (ggf. auf die Mailbox sprechen). Geldspenden über den Verein Courage , Spendenquittung möglich. Auch Sachspenden von z. B. Mehl, Hygieneartikeln, Tierfutter, Medikamenten und medizinischem Material werden, gern in größeren Gebinden, angenommen.

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