Detmold/Massanga. Vor dem kleinen Krankenhaus in Massanga im Norden Sierra Leones steht ein eigentlich passabel aussehender Rettungswagen. Er parkt allerdings schon eine ganz Weile dort im Schlamm und wird auch so schnell nicht wieder zu einem Einsatz ausrücken, denn der Reifen hinten links ist platt. Im Gunde eine Petitesse, aber in Sierra Leone ein nicht zu lösendes Problem. Dem Krankenhaus fehlt das Geld, um den Platten flicken zu lassen. Die Panne, über die bei uns keiner sprechen würde, steht symbolisch für das Gesundheitssystem des westafrikanischen Landes, das zu den zehn ärmsten Ländern der Welt zählt. Professor Dr. Wolfgang Hiller, bis März vergangenen Jahres Chefarzt der Allgemein- und Viszeralchirurgie am Klinikum Lippe - damals ging der bis dahin dienstälteste Chefarzt und in ganz Lippe bekannte Mediziner in den Ruhestand - ist nun vor Ort gewesen. Er hat damit ein Versprechen eingelöst, das er seiner früheren Oberärztin in Detmold gegeben hatte. Dr. Katja Maschuw hatte im Januar 2022 beim Klinikum gekündigt, um in Sierra Leone arbeiten zu können. „Ich hatte ihr versprochen, sie zu besuchen, ihr zu helfen“, sagt Hiller und setzte damit auch einen Plan um, den er vor Jahrzehnten schon in seiner Oberarztzeit in Hannover geschmiedet hatte. Zu einem Einsatz in Afrika war es dann aber nie gekommen. Den Kontinent hatte er allerdings vor 40 Jahren schon einmal besucht, er war in Südafrika. Das hilft ihm, die Situation in Massanga einordnen zu können: „Ich hätte nie gedacht, dass die Situation in Sierra Leone 40 Jahre später so viel schlechter sein kann als damals.“ 15 Chirurgen, ein CT Es ist ein Land mit siebeneinhalb Millionen Einwohnern (jeder zweite davon lebt unter der Armutsgrenze), 15 Chirurgen und einem Computertomografen, der steht in der Hauptstadt Freetown. Eine Regelversorgung ist unbekannt. Tumore werden in Massanga so gut wie gar nicht behandelt, „weil die Patienten zu spät ins Krankenhaus kommen und eine Anschlussbehandlung ohnehin nicht möglich ist.“ Und warum kommen die Leute zu spät? „Weil eine mittelgroße OP 200 Dollar kostet. Das Durchschnittsgehalt liegt bei 150 Dollar. Sie haben das Geld nicht.“ Und die Versorgung im Krankenhaus müssen die Verwandten übernehmen und bezahlen. Da geht es oft vor, ein Brot zu kaufen - oder Schulmaterial. Ein weiteres Beispiel für die Zustände im Land übrigens: Eigentlich kostet der Schulbesuch nichts, aber die Korruption ist allgegenwärtig, Prof. Hiller ist nicht nur ’runtergeflogen, um 14 Tage lang Menschen zu helfen, in der Klinik mit anzupacken, zu operieren. Das hat er selbstverständlich auch gemacht, aber viel wichtiger ist es ihm, auf Dauer für Verbesserungen sorgen zu wollen. „Es geht um Nachhaltigkeit, die Menschen vor Ort zu qualifizieren. Das ist die Basis und bitter notwendig.“ Das Krankenhaus wird von der norwegischen NGO „CapaCare“ betrieben, die seit einiger Zeit den Schwerpunkt darauf legt, Krankenpfleger weiterzubilden, damit die auch operieren können. Denn Ärzte verlassen oft das Land. „Sie sind gut ausgebildet und dann schnell wieder weg. Das ist alles extrem korrupt da.“ Die Pfleger lernen, kleinere OPs vorzunehmen, etwa eine Blinddarmentfernung, sagt Hiller, der vor den Ärzten und Pflegern alle Hüte zieht. „Das Spektrum ist angesichts der Möglichkeiten unglaublich.“ Viele Mediziner sterben selbst jung, an Ebola oder anderen Infektionskrankheiten, manche wählen den Freitod, weil sie angesichts von Überarbeitung und Verzweiflung nicht mehr können. Dr. Maschuw muss vertraglich zweimal im Jahr Pause machen, in die Heimat fliegen, Kraft tanken. In die eigene Altersversorgung kann sie nicht einzahlen. Papaya-Fruchtfleisch als Wundauflage Es wird improvisiert, es gibt OP-Hauben aus alten Plastikschürzen. In der Regenzeit werden Stiefel festgekettet, damit sie nicht geklaut werden. Und es wird auf altes Wissen vertraut, Papaya-Fruchtfleisch eignet sich vorzüglich als Wundauflage. Dann zeigt Hiller Fotos eines Mannes, dessen Zahn-Abszess bis in die Schulter reicht, er zeigt verwundete Gliedmaße und das Röntgenbild eines nach einem Unfall völlig falsch zusammengewachsenen Knochens - der Bruch war halt nicht gerichtet worden. Hiller schildert einen „fast schon zu plakativen, typischen Fall.“ Ein 20-Jähriger mit sieben Geschwistern - auf sich allein gestellt, die Mutter bei der Geburt, der Vater an Ebola gestorben -, wird bei einem Unfall schwer verletzt. Er bekommt einen künstlichen Darmausgang, kann aber das Urin nicht halten, „die Blase war komplett kaputt.“ Dr. Katja Maschuw formt, nach fachlichem Austausch per Video mit einem norwegischen Urologen, eine künstliche Blase aus einem Stück seines eigenen Darms. „Da würde hier keiner darauf kommen.“ Dr. Maschuw ist bekannt im Land, das Krankenhaus in der Hauptstadt schickt Patienten über die 200-Kilometer-Strecke zum Teil über Buckelpisten zu ihr nach Massanga. Nächstes Jahr fliegt er wieder hin Die wichtigste Eigenschaft eines Arztes sei, es die eigenen Grenzen zu kennen, hatte Wolfgang Hiller vor anderthalb Jahren bei seinem Abschied vom Klinikum der LZ gesagt. Definiert er diese Grenzen nun neu? „Gute Mediziner müssen sich immer fragen: Gibt es einen, der es besser kann als ich? Die Frage stellt sich dort nicht. Dort heißt es nur dann ,Stop’, wenn man mehr Schaden als Nutzen anrichtet.“ Er wird wieder hinfliegen, nächstes Jahr sind dreimal zwei Wochen geplant. Um Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten zu können.