Drücker wird 1988 vor einen Zug geworfen: Tod bei Kilometer 144

Extertal-Bösingfeld. Thomas L. (alle Namen geändert) hat zu wenige Postkarten verkauft, darum muss er 1988 sterben. Erst seit einer guten Woche arbeitet der Österreicher für die Drückerkolonne im Extertal, für die er jetzt schon nicht mehr gut genug ist. Von den beiden Chefs wird er zusammengeschlagen und gefoltert. Eine Bestrafung für seine Faulheit. Doch weil L. nun arbeitsunfähig und nicht mehr vorzeigbar ist, muss er weg. Thomas L. wird gefesselt, geknebelt und dann vor einen heranrauschenden Zug geworfen. Bis zuletzt fleht der junge Mann um sein Leben.

Der gelernte Tischler ist seit zwei Monaten arbeitslos, als er über die Zeitungsannonce einer Firma aus dem Rheinland stolpert. "Leichte Tätigkeit, viel Geld zu verdienen" heißt es darin verheißungsvoll. An der Raststätte Geiselwind an der A3 trifft L. am 1. August das erste Mal auf seine neuen Arbeitgeber. Eine kurze Einweisung der Bosse reicht schon aus, dann ist Thomas L. fit für seine neue Aufgabe. Als Teil einer Drückerkolonne, die sich in einem Hotel in Extertal-Bösingfeld niedergelassen hat, soll er in Ostwestfalen-Lippe Schmuckpostkarten an der Haustür verkaufen. Was er da noch nicht weiß: Jeden Abend, nach Sonnenuntergang, wird abgerechnet.

Gefoltert und zusammengeschlagen

Schnell monieren die Leiter der Kolonne, Marko S. und Florian T., die finanzielle Ausbeute des 26-Jährigen, setzen ihn unter Druck. Als den beiden Chefs die verbalen Schelten nicht mehr ausreichend erscheinen, lassen sie Taten sprechen. S. und T. schleppen den jungen Mann in ein nahegelegenes Waldstück, um ihn dort vor den versammelten Kollegen zusammenzuschlagen. Als Exempel, dass zeigen soll, was passiert, wenn jemand nicht liefert. Zurück im Hotel wird Thomas L. in Ketten gelegt und weiter gefoltert. Sein Gesicht ist übersäht mit Platzwunden und blauen Flecken. Aus dem Postkartenverkauf wird für ihn so nichts mehr. Das merken auch seine Peiniger.

Drücker-Chef Jürgen H., der Vorgesetzte von Marko S. und Florian T., gibt seinen beiden Handlangern am Morgen des 13. August 1988 den Befehl, das spätere Opfer loszuwerden: "Bringt ihn weg, der kostet nur noch Geld", sollen die Worte des Chefs gewesen sein. S. und T. zwängen Thomas L. noch in derselben Nacht in den Kofferaum ihres Wagens und schaffen ihn nach Drensteinfurt im Kreis Warendorf, an die Bahnstrecke zwischen Münster und Hamm. Rund 30 Minuten warten sie mit ihrem um Gnade bittenden Opfer auf der Höhe von Kilometer 144 auf den nächsten Zug. Die Polizei kann später nur noch die Leichenteile des jungen Mannes bergen.

Vom Ski-Talent zum Drücker-Chef

Die Polizei nimmt zunächst an, dass es sich bei dem Fall um einen Freitod handelt. Erst vier Wochen nach dem Verbrechen kommt die Bielefelder Mordkommission der Drückerbande auf die Spur, die sich da bereits ins Rheinland abgesetzt hat. S. und T. schnappt die Polizei in einer Pension in Altenahr. Jürgen H. wird zwei Tage später in Bielefeld gefasst.

Im Frühjahr 1990 landet der Fall in Detmold vor Gericht. Reporter-Teams aus dem ganzen Land berichten damals von dem Prozess. Dabei gibt sich H., ebenfalls Österreicher und gelernter Einzelhandelskaufmann, kühl und beherrscht. Er mache einen intelligenten Eindruck, schreibt die LZ am 20. Feburar 1990. In seiner Kindheit galt er als großes Talent im Alpinen Skisport, erzählt Jürgen H. dem Detmolder Schwurgericht. Bandscheibenbeschwerden ließen aus ihm einen Drücker-Chef werden. Die Drücker aus H.s Kolonne - meist von der Straße aufgelesene Arbeitslose oder entlassene Häftlinge - bekamen von ihm die Aufgabe, Glückwunschkarten in Zehnerpacks zu verkaufen. Psychischer Druck und Folter waren an der Tagesordnung. Etliche flohen nach wenigen Tagen. Wer wieder aufgelesen wurde, dem drohte Übles.

"Der kommt heute Nacht auf's Gleis"

Als es vor Gericht ans Eingemachte geht, schiebt H. jegliche Schuld von sich. Das Mordkomplott sei die Idee von Marko S. gewesen, sagt er aus. Am Telefon sei bloß vom "Wegbringen" des späteren Opfers die Rede gewesen. S. wiederum schwört, dass es anders war: "Der kommt heute Nacht aufs Gleis", soll H. an jedem Morgen am Telefon gesagt haben. "Da fragt man nicht lange. Bevor mich einer umlegt, lege ich lieber einen um", wird S. in einem Gerichtsbericht zitiert. Seinen Kompagnon Florian T. entlastet er hingegen. T. sei stark angetrunken gewesen und habe bloß dabei geholfen, das spätere Opfer eine Böschung hochzuhieven, so S. vor Gericht.

Marko S. muss lebenslänglich hinter Gitter, Florian T. bekommt acht Jahre wegen Beihilfe zum Mord. Und Jürgen H.? "Undenkbar, dass in diesem hierarchischen Milieu die beiden Kolonnenleiter die Tat auf eigene Faust verübt hätten", schlussfolgert die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer. Auch Drücker-Chef H. müsse beteiligt gewesen sein.

Doch der Mord an Thomas L. sei H. nicht zweifelsfrei nachzuweisen, urteilt das Gericht. Die Folge: Freispruch vom Vorwurf des Mordes, aber viele Jahre Freiheitsstrafe wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung. “Unmöglich”, quittiert das Publikum damals im Gerichtssaal. Die Staatsanwaltschaft legt zwar noch Berufung ein, scheitert damit jedoch.

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