„Wasser im Ponton“: Wie die Weser bei Varenholz für 81 Menschen zum nassen Grab wurde

Kalletal-Varenholz. Die freundlich strahlende Frühlingssonne lässt das Wasser der Weser glitzern, ein leichter Wind weht durch die Bäume am anderen Ufer, während ein Lastenkahn - beladen mit Kies - behäbig an der malerischen Kulisse des Weserberglandes vorbeizieht: Am Fähranleger in Varenholz geht es an diesem milden Märzvormittag idyllisch zu und nichts weist auf den schrecklichen Tag hin, an dem der Fluss 80 junge deutsche Soldaten und einen Zivilisten verschluckte und sie lebend nicht wieder hergab. Am 31. März jährt sich diese Katastrophe zum 100. Mal. Obwohl der Vorfall das verlustreichste Ereignis der Reichswehr zu Friedenszeiten war, ist er aus dem kollektiven Gedächtnis der Region schon fast verschwunden.

An diesem Mittwochvormittag stehen Vera Varlemann und Hans-Ulrich Krause vom Arbeitskreis Heimatgeschichte der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Varenholz mit Kalletals Bürgermeister Mario Hecker am Weserufer und präsentieren das Ergebnis ihrer Recherchearbeit. In ihrem Dorfarchiv, das sie vor zehn Jahren von Ulrich Siekmann aus Varenholz übernahmen, haben sie sich auf die Suche gemacht und können nun einiges darüber berichten, wie das Unheil vor 100 Jahren seinen Lauf nahm.

Lastwagen bringen Soldaten an die Weser &bdquo;Genau an dieser Stelle, wo jetzt das Fährhaus ist, sollte die Ponton-Fähre übersetzen“, sagt Krause und zeigt in Richtung des gegenüberliegenden Ufers, an dem sich auch das Dorf Veltheim befindet. Bereits am Morgen des 31. März 1925 bringen Lastwagen der Reichswehr Soldaten aus Detmold an die Weser, die an einem Manöver in Veltheim teilnehmen sollen - durch die schlechten Straßenverhältnisse dauert die Fahrt länger als geplant und die Soldaten kommen mit etwa 90 Minuten Verspätung an.

Sie sollen den Fluss, der aufgrund der Schneeschmelze Hochwasser führt, mit einer Pontonfähre überqueren. Dabei handelt es sich um eine Konstruktion aus luftgefüllten Schwimmkörpern aus Holz und Metal, die zu Wasser gelassen den Unterbau für eine mobile Gierseilfähre bilden, die schnell auf- und abgebaut werden kann. Das erledigten Mindener Pioniere bereits am Vortag.

&bdquo;Wasser im Ponton“ Die ersten Überfahrten Verlaufen reibungslos, sogar eine Schulkasse und ein Journalist werden aus Gründen, die man heute wohl als PR-Aktion bezeichnen würde, übergesetzt. Auch die ersten Soldaten erreichen das Ufer unbeschadet. Doch während der fünften Überfahrt lässt der Ruf &bdquo;Wasser im Ponton!“ die Männer aufschrecken. Wellen des passierenden Bäderdampfers &bdquo;Fürst Bismark“ treffen auf die Fähre. 167 Rekruten der 14. und 16. Kompanie des Ausbildungsbataillons Detmold befinden sich in diesem Moment aufgestellt in engen Reihen auf dem Wasser. Sie tragen schwere Mäntel und Stiefel, Stahlhelme, Tornister, Gewehre und weitere Ausrüstung. &bdquo;Sie konnten sich kaum mehr bewegen und nur noch ihr Gewicht verlagern“, berichtet Varlemann.

Den Befehl des für die Operation verantwortlichen Offiziers Oberleutnant Gerhard Jordan, sich nach dem Wassereintritt besser zu verteilen, verstehen viele Soldaten falsch - Verwirrung und Panik unter den Männern führt zu einer einseitigen Belastung Fähre, die zu kentern beginnt.

Als jemand das Sicherheitsseil kappt, treibt der Schwimmkörper flussabwärts. Mit einem Rettungsponton sollen die Gekenterten eingesammelt werden. Doch der ist schnell überlastet - zu viele Soldaten versuchen, mit ihrer schweren Ausrüstung an Bord zu kommen und halten sich am Ponton fest, bis dieser schließlich auch kentert. Glück haben nur die Soldaten der 15. Kompanie: Weil ihr Hauptmann der Fähre nicht traut, bleibt die Truppe am Ufer zurück.

Gefährliches Gewässer Die Weser gilt in diesem Bereich ohnehin als gefährlich und voller Strudel, doch auch das schwere Gepäck und die massive Kleidung der Rekruten, von denen ein großer Teil nicht schwimmen kann, verschlechtern die Überlebenschancen deutlich. Der damalige Veltheimer Fährmann Friedrich Huck, der den Betrieb wegen der Reichswehrübung für den Tag aussetzen muss, sieht das Unglück und will helfen. &bdquo;Er hat seine Fähre losgemacht (...) und noch 15 Soldaten gerettet. Weitere Helfer, die als Zuschauer hier waren, sind auch noch ins Wasser gesprungen und haben welche rausgeholt“, berichtet Krause. Trotzdem bleiben 81 Tote in der Weser zurück. &bdquo;Es sind übrigens 80 Soldaten und ein Zivilist gewesen“, berichtet Krause weiter.

Der Kaufmann Wilhelm Brand aus Varenholz will an diesem Tag übersetzten, um den Bahnhof in Veltheim zu erreichen. Weil der Fährbetrieb nicht stattfindet, bittet er darum, mitgenommen zu werden. &bdquo;Das ist ihm zum Verhängnis geworden, er ist dabei gestorben“, sagt Krause. Der eigene Sohn sieht laut Varlemann den Vater fortschwimmen und ertrinken. Julius Rolf, ein weiterer Geschäftsmann aus dem Dorf, der mit an Bord ist, kann sich schwimmend retten. Die damals 19-jährige Frieda Petri will eigentlich ebenfalls mitfahren. &bdquo;Sie hat aus ängstlichen Gründen einen Rückzieher gemacht“, berichtet Varlemann.

In wenigen Minuten ist alles vorbei Das Unglück selbst dauert nur wenige Minuten, doch das Grauen ist groß an diesem Dienstagmorgen: &bdquo;Man hat tote Soldaten gefunden, die sich an ihre Gewehre geklammert haben“, sagt Krause. Die Uhren vieler Männer bleiben um 9.50 Uhr stehen. Zehn Leichen werden sofort aus dem Wasser geholt - zwei weitere am Abend. Nach zehn Tagen sind 51 Tote geborgen. Erst nach 24 Tagen wird der letzte gefunden.

Die meisten Leichen schwemmen zwischen Erder und Vlotho ans Ufer. Andere trägt der Fluss bis nach Porta, Petershagen und Windheim fort. Auch die Überreste der Fähre finden sich später zwischen Erder und Vlotho. Der Neesener Unteroffizier Friedrich Krückemeyer wird in unmittelbarer Nähe seiner elterlichen Besitzung tot aus der Weser geholt. &bdquo;Die Verzweiflungsschreie und Hilferufe der Verunglückten waren herzzerreißend“, sagt Varlemann.

Landtag unterbricht Sitzung Als die Kunde um die Geschehnisse in Detmold ankommt, unterbricht der Lippische Landtag seine Sitzung. &bdquo;Heinrich Drake ist zum Unglücksort geeilt, so wie Politiker das heute auch machen würden“, sagt Krause über die Reaktion des damaligen Vorsitzenden des Lippischen Landtages.

Auch die Angehörigen der Soldaten werden sofort benachrichtigt. &bdquo;Es haben sich hier erschreckende Szenen abgespielt“, berichtet Varlemann. Auf beiden Seiten der Weser laufen Angehörige der Opfer tagelang umher und suchen nach ihren Ehemännern, Söhnen und Brüdern. &bdquo;Die Ausbildungskompanie Detmold hat sich gut um die Angehörigen gekümmert, sie bekamen kostenlose Unterkunft und Verpflegung in der Kaserne.“

Trauerzug durch Detmold Die 86 überlebenden Soldaten werden von der Veltheimer Bevölkerung aufgenommen. &bdquo;Sie wurden verpflegt und teilweise mit Zivilkleidung ausgestattet“, berichtet Varlemann. Später treffen sich die Männer am Bahnhof von Veltheim und fahren zurück nach Detmold. &bdquo;Die Bevölkerung hat sie dann schweigend am Bahnhof in Empfang genommen“, berichtet Varlemann weiter. Die Strapazen sind den Soldaten bei ihrer Rückkehr deutlich anzumerken.

Am 3. April 1925 findet die offizielle Trauerfeier im Kasernenblock des Detmolder Ausbildungsbataillons statt. Die Trauerreden halten der Paderborner Erzbischof Dr. Klein und der Generalsuperintendent Dr. August Weßel von der Lippischen Landeskirche. Der Trauerzug, angeführt von Reichswehrminister Dr. Otto Geßler, Fürst Leopold IV. zur Lippe und Generaloberst Hans von Seeckt, bewegt sich im Anschluss durch die Lange Straße zum Ehrenfriedhof an der Blomberger Straße. Jedes Haus in Detmold ist laut Varlemann mit Trauerflor, Fahnen und Flaggen auf halbmast geschmückt.

Ein trauriges Osterfest 24 ertrunkene Soldaten stammen aus dem engeren Heimatkreis: etwa aus Bad Salzuflen, Barntrup, Ottenhausen, Wüsten, Oerlinghausen, Bielefeld, Ennigloh, Detmold, Neesen, Kutenhausen, Hörste, Holthausen, Oberbauernschaft, Schötmar, Herford, Holzminden, Billerbeck, Lemgo, Hessisch Oldendorf, Holzminden und Minden. &bdquo;Das war ein wirklich trauriges Osterfest“, sagt Varlemann. Zehn Tage nach dem Unglück, am Ostersamstag 1925, findet an der Fähre eine öffentliche Trauerfeier statt und mehrere Soldaten werden mit der Reichsbahn in ihre Heimat überführt. Am Ostersonntag werden drei weitere Tote in Vlotho gefunden und am Ostermontag findet ein Soldat in Lerbeck seine letzte Ruhestätte.

&bdquo;Dann kam die Ursachenforschung, an der sogar Taucher teilnahmen“, berichtet Krause. Dafür wird das Unglück zweimal rekonstruiert. Einmal wird die Fähre mit Sandsäcken beladen und anschließend müssen noch einmal 167 Soldaten an Bord gehen. Sie werden aber nicht noch einmal über den Fluss, in dem ihre Kameraden starben, geschickt.

Prozesse gegen den Befehlshaber Es kommt zum Prozess gegen den Leiter des Manövers Oberleutnant Gerhard Jordan. Nach acht Verhandlungstagen wird er freigesprochen. &bdquo;Man konnte ihm kein Fehlverhalten nachweisen“, berichtet Krause. Jordan habe nach einer sehr alten Dienstvorschrift aus dem 19. Jahrhundert gehandelt und die Fähre sei den gesetzlichen Ansprüchen entsprechend aufgebaut worden.

Das Gericht sieht schließlich das Hochwasser und Konstruktionsfehler als Ursache für das Unglück. &bdquo;Danach ging es mit den Pontonfähren zu Ende. Es wurden dann als Unterlage Schlauchboote genommen“, erläutert Krause. Die Pontonfähren selbst galten laut Varlemann schon vor dem Unglück als kriegsuntüchtig. Aufgrund von Materialproblemen in der Reichswehr, die auch durch die Beschränkungen durch den Versailler Vertrag ausgelöst wurden, hat die Reichswehr sie aber weiter verwendet.

Ein schwerwiegenderes juristisches Nachspiel hatte die Katastrophe am Ende nicht für die Verantwortlichen in der Armee, sondern für zwei Journalisten: Viele der verunglückten Soldaten waren laut Varlemann sogenannte Zeitfreiwillige. Mit deren viermonatiger Kurzausbildung unterlief das Deutsche Reich schon in der Weimarer Zeit die Auflagen des Versailler Vertrages und füllte unter dem Radar der Öffentlichkeit das Heer auf, das offiziell nur 100.000 Soldaten stark sein durfte. 1928 werden die Journalisten Berthold Jakob und Fritz Küster wegen publizistischen Landesverrates zu neun Monaten Festungshaft verurteilt. Sie hatten über das Unglück berichtet und das System der Zeitfreiwilligen und den damit einhergehenden Verstoß gegen den Friedensvertrag publik gemacht.

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