Behindert in der Grundschule: Für Finn wird der Schulstart zur Tortur

Kreis Lippe. Lisa Redecker ist wütend. Und sie fühlt sich ohnmächtig. Seit vergangener Woche geht ihr sechsjähriger Sohn in die Schule. Von vornherein war klar, dass er dabei Unterstützung brauchen würde. Denn Finn (Name geändert) hat eine Regulationsstörung, bescheinigt durch Pflegegrad 2 und einen Schwerbehindertenausweis. Schon vor einem Jahr hatte seine Mutter sich deshalb um einen vernünftigen Schulplatz und eine Schulbegleitung für ihn gekümmert. Doch es kam alles anders.

Drei Tage vor der Einschulung kam die Schocknachricht: Der Kreis Lippe lehnt die Schulbegleitung für Finn ab. Dabei existiert diese Maßnahme extra, um Kinder mit Behinderung oder psychischer Störung im schulischen Alltag zu unterstützen. Die Reaktion der Schule, für die Lisa Redecker ihren Sohn angemeldet hatte, war eindeutig: Noch am selben Abend teilte man ihr mit, ohne Schulbegleitung könne Finn nicht kommen, weil die Lehrkräfte seinen besonderen Bedürfnissen nicht gerecht werden könnten.

Gemeint ist damit vor allem, dass Finn Probleme hat, seinen Stuhlgang zu kontrollieren: Er macht sich regelmäßig in die Hose. Seit Jahren ist er unter anderem deshalb in Therapie. Dass es sich hier nicht einfach um ein Problem in Sauberkeitserziehung handelt, haben Kindergarten, Kinderarzt und Therapeut mehrfach bestätigt.

Offiziell als schwerbehindert anerkannt Auch bei der Schuleingangsuntersuchung durch den Amtsarzt des Gesundheitsamtes kam dieser schnell zu dem Schluss, dass Finn eine Schulbegleitung braucht. &bdquo;Außerdem ist er zu 50 Prozent als schwerbehindert eingestuft, das ist doch eine offizielle Anerkennung seiner Problematik", sagt Lisa Redecker immer noch fassungslos.

Tagelang telefonierte sie nach den Absagen überall herum, kontaktierte Gesundheitsamt, Schulbehörde, Eingliederungshilfe. &bdquo;Die ließen uns alle im Stich. Entweder erreichte ich niemanden oder man teilte mir mit, man sei für uns nicht zuständig." Erst am Vorabend der Einschulung war klar: Finn darf zur Schule gehen. Eine Begleitung, die ihn im Fall eines &bdquo;Missgeschicks" wie er selbst und seine Familie sagen, säubert und unauffällig wieder in die Klasse bringt, hat er nicht. &bdquo;Damit war es mit seiner Freude natürlich vorbei", sagt Mutter Lisa. &bdquo;Er hat nur noch Angst, fürchtet sich vor Unfällen, dass die anderen Kinder sich über ihn lustig machen."

Die Schule hat klar kommuniziert, dass Finn jedesmal abgeholt werden muss, wenn er sich in die Hose macht. Das wiederum ist für seine Mutter nicht zu schaffen. &bdquo;Ich bin alleinerziehend, habe drei Kinder und arbeite voll selbstständig, um meine Familie zu ernähren. Ich habe Termine und Meetings. Wie soll das gehen?" Doch auch um ihren Sohn tut es der 33-Jährigen leid. &bdquo;Das ist doch der schlechteste Start in die Schulzeit, den man haben kann. Ich habe mich vor fast einem Jahr um alles gekümmert. Und die lassen uns voll auflaufen." Was Redecker besonders wütend macht: &bdquo;Es hätte doch andere Möglichkeiten gegeben. Ihn noch ein Jahr zurückzustellen. Ihn auf einer Inklusionsschule einschulen. Ich war für alles offen. War aber alles nicht möglich." Dabei ist die passende Einrichtung nur ein Dorf weiter. &bdquo;Dafür ist er aber nicht auffällig genug. Dazu hätte er im Kindergarten richtig ausflippen müssen."

Plötzlich doch eine Reaktion Nun muss der Sechsjährige eine Schule besuchen, die nicht auf ihn eingestellt ist, erhält aber die dafür erforderliche Unterstützung nicht. &bdquo;Stattdessen haben wir den Rat bekommen, ihm doch einfach Windeln anzuziehen", sagt Lisa Redecker. &bdquo;Als ob das dann nicht trotzdem jeder riecht. Und außerdem ist das ganz klar ein Rückschritt, der aus therapeutischer Sicht überhaupt nicht sinnvoll ist."

Auf Anfrage dieser Zeitung zu den Gründen für die Ablehnung einer Schulbegleitung, teilt der Kreis Lippe mit, dass man sich aus Datenschutzgründen zu Einzelfällen nicht äußern könne. Grundsätzlich müssten aber zwei Voraussetzungen für Eingliederungshilfe erfüllt sein: körperliche, geistige und/oder seelische Beeinträchtigungen, die nach internationaler Klassifikation ICD 10 von einem Mediziner oder Facharzt diagnostiziert sind. Zudem müsse eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegen.

Das sollte bei Finn eigentlich erst im September überprüft werden. Doch nachdem nw.de beim Kreis Lippe und auch beim Gesundheitsministerium in Düsseldorf nachfragte und den Fall schilderte, ging plötzlich alles ganz schnell. Noch am selben Abend meldete sich ein Mitarbeiter des Kreises bei Lisa Redecker, um ihr anzubieten, die Überprüfung schon in den kommenden Tagen durchzuführen. Zudem versicherte ihr ein Sprecher aus dem Gesundheitsministerium, der Fall und Finns Recht auf eine Schulbegleitung seien eindeutig.

Die 33-Jährige bleibt skeptisch. &bdquo;Mal abwarten, ob es wirklich klappt. Und für Finn tut es mir trotzdem leid. Der hätte einen ganz anderen Start haben können. Ohne Angst und Druck. Schließlich hätten sie ein ganzes Jahr Vorschulzeit Gelegenheit gehabt, ihn zu untersuchen."

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