„Er konnte keinen Stift mehr halten“: Wie ein neunjähriger Lipper mit Long Covid lebt

Kreis Lippe. Es ist trubelig, Drittklässler reden durcheinander, mitten unter ihnen Finn M. (Name geändert). Er sitzt im Rollstuhl, besucht heute seine Klasse, freut sich, dabei zu sein. Auch wenn er und seine Mutter wissen, dass es ihn viel Kraft kostet, er sich nach diesem kurzen Besuch erst einmal längere Zeit ausruhen muss. Denn Finn leidet an Long Covid, kann am regulären Unterricht derzeit nicht teilnehmen, wird zu Hause unterrichtet. Dabei gebe es eine Möglichkeit, um ihn zumindest ein Stück weit die Teilnahme am regulären Unterricht in der Schule zu ermöglichen. &bdquo;Er soll einfach teilhaben können“, sagt seine Mutter verzweifelt. Doch von vorn.

Begonnen hat alles im Herbst 2023. Der damals siebenjährige Finn und seine Mutter erkranken an Corona. &bdquo;Er hatte wenige Symptome, vor allem Husten, Pseudokrupp“, erklärt die Mutter rückblickend. Zu diesem Zeitpunkt hatte Finn bereits eine Impfung gegen das Virus erhalten. &bdquo;Nach der hatte er über Gelenkschmerzen geklagt, war sogar zur Reha.“

Herz auf 180 Wieder negativ, ging Finn wieder zur Schule, freute sich auf den Urlaub in den Herbstferien. Doch er bekam Herzschmerzen, der Kinderarzt aber erklärte ihn für herzgesund. &bdquo;Ich habe ihn dann zu meinem Hausarzt mitgenommen, der meinte, Herzprobleme und Corona kämen häufiger vor, es müsse Zeit vergehen.“ Die Eltern vertrauen den Ärzten, also geht der Junge weiter zur Schule, macht Sport - und ist immer öfter völlig erschöpft.

Irgendwann liegt seine Herzfrequenz schließlich ständig bei 170 bis 180, berichtet seine Mutter - normal sind 80 bis 120 Schläge pro Minute . &bdquo;Er konnte nicht mehr zur Schule gehen, sein Akku lud einfach nicht mehr auf.“ An Sport war gar nicht mehr zu denken. Er galt als Schulverweigerer, die Symptome seien psychologischer Art, sei ihnen erklärt worden. Das belastet den Jungen zusätzlich: &bdquo;Um Weihnachten herum hatte Finn einen Crash, es ging nichts mehr, er konnte nur noch liegen“, ihre Stimme zittert.

Nach den Ferien aber wollte er unbedingt wieder zur Schule gehen, &bdquo;er hat sich regelrecht hingeschleppt. Ich habe auf dem Schulflur gesessen als Unterstützung.“ Und am Nachmittag hatte er dann nicht einmal mehr die Energie, eine Wasserflasche aufzudrehen. Im März 2024 schließlich geht die Familie in die Post-Covid-Ambulanz in Bethel, &bdquo;dort wurde bestätigt, dass Finn an Post Covid leidet“. Der Rat: Weniger Belastung, er solle weniger zur Schule gehen - etwas, dass für den Jungen gar nicht infrage kam. Doch er baut weiter ab. &bdquo;Ich wusste mir nicht mehr zu helfen.“

Weder lesen noch schreiben möglich Über Ostern fährt die Familie an die See - Finn im Bollerwagen, auch wenn er das anfangs gar nicht gewollt hätte, schließlich ist er mittlerweile acht, kein kleines Kind mehr. &bdquo;Doch je mehr Schritte er machte, desto schlechter ging es ihm“ - etwas, dass - rückblickend betrachtet - typisch für Long Covid ist. Kaum zurück zu Hause folgt der nächste Crash. &bdquo;In Bethel hatte man uns gesagt, dass das passieren könne. Aber auch, dass solche ,Seelenmomente’ wichtig seien.“ Die Eltern entscheiden, Finns Schulzeiten zu reduzieren, die Herzfrequenz überwachen sie mit einer Pulsuhr. Und so habe er bei einem Fußballturnier dabei sein können - zumindest kurz. &bdquo;Er wollte dabei sein, tun, was seine Freunde machten.“

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Es folgt die Begutachtung des Medizinischen Dienstes, Finn hat sowohl einen Pflegegrad als auch einen Grad der Behinderung. &bdquo;Doch das war ein Kampf“, berichtet die Mutter und schüttelt den Kopf. Dabei kann der Junge zu diesem Zeitpunkt nicht einmal mehr Treppen laufen. &bdquo;Nach dem Pflegegutachten crashte er erneut, so sehr hatte es ihn mitgenommen.“

Im Mai 2024 geht Finn das letzte Mal zur Schule, Ende Mai kann er keinen Stift mehr halten, weder lesen noch schreiben. Denn Long Covid wirkt sich nicht nur körperlich aus - häufig ist die Erschöpfung nach kleinster Anstrengung ohne Erholung, &bdquo;Fatigue“ genannt -, sondern auch kognitiv, häufig in Form von Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, sogenannter &bdquo;Brain Fog“.

Medikamente, Rollstuhl - und dann? In Absprache mit den Eltern bekommt Finn sogenannte &bdquo;Off-Label-Medikamente“. Diese sind zwar am Markt zugelassen, aber nicht für diese spezielle Anwendung. Was auch heißt, dass die Eltern die Arzneimittel selbst zahlen müssen. &bdquo;Sie helfen ihm, und das ist das, was zählt“, die Stimme klingt kämpferisch. Da der Junge kaum ein paar Schritte mehr laufen kann, beantragen die Eltern einen auf ihn angepassten Rollstuhl - &bdquo;er soll sein Leben nicht im Haus verbringen müssen“. Im Mai beantragt, wird er im November geliefert. In der Zwischenzeit muss ein gebrauchter herhalten.

Finn geht es besser, doch er ist auf den Rollstuhl angewiesen, auch im Haus. &bdquo;Wir haben einen Elektromotor beantragt, damit er auch allein dahin kommt, wo er hin möchte.“ Viel raus gehen, unternehmen ginge nicht. Die Geschwister hätten viel Verständnis, wenn nach einer Stunde im Vogelpark der Rückweg angetreten werden muss. &bdquo;Er sitzt häufig mit seiner kleinen Schwester im Sandkasten oder auf dem Boden und spielt mit ihr.“ Auch seine zwei besten Freunde hätten Verständnis, wenn sich Finn während des Spielens mal für eine Viertelstunde in seinem Zimmer ausruhen müsse.

Auch lesen und schreiben kann der mittlerweile Neunjährige wieder, ist kognitiv gut aufgestellt. Er bekommt Ergo- und Physiotherapie, hat dreimal die Woche Hausunterricht. &bdquo;Danach muss er sich aber 30 bis 45 Minuten ausruhen, zum Beispiel im Liegen ein Hörspiel hören.“ Regelmäßig geht er in seine Klasse, um am Sachunterricht - Finns Lieblingsfach - teilzunehmen, denn zu Hause dürften nur Mathe und Deutsch unterrichtet werden, erklärt die Mutter. Doch nach den Schulbesuchen sei er völlig erschöpft, &bdquo;dann geht nichts mehr“.

Avatar oder nicht Dabei gebe es eine Möglichkeit, dass Finn am Unterricht seiner Klasse teilnehmen könne, weiß die Mutter - und zwar von zu Hause aus: über einen Avatar. Und den gibt es auch im Kreis Lippe, er kam bereits zum Einsatz: In Leopoldshöhe hatte ein Fünftklässler, der im Krankenhaus lag, so am Unterricht teilgenommen . Über den Telepräsenz-Roboter bekommt das Kind Ton und Bild aufs Tablet. &bdquo;Doch bei uns haben nicht alle Eltern ihr Einverständnis dafür abgegeben“ - und das sei notwendig. Dabei zeichne der Avatar nichts auf, es gehe rein um eine Übertragung. Und nicht nur beim Unterricht, auch bei Ausflügen und Co. könnte Finn über den dabei sein - &bdquo;und teilhaben“, betont die Mutter, denn das fällt derzeit aus. Auch über Teams kann Finn nicht ins Klassenzimmer zugeschaltet werden, denn auch dessen Nutzung hatten nicht alle Eltern zugestimmt.

Denn beim reinen Hausunterricht gebe es noch ein weiteres Problem: &bdquo;Er bringt Leistung, bekommt aber keine Noten.“ Auch das verstehe das Kind nicht. Eine regelgerechte Versetzung gebe es damit ebenfalls nicht, erklärt die Mutter. Zwar wird der Drittklässler nach den Ferien am Unterricht der vierten Klasse teilnehmen dürfen, wenn er aber nicht mithalten kann, muss er zurück.

Finn hat gelernt, mit seiner Krankheit umzugehen, auf seinen Körper zu hören - doch ein Stück weit hat er dadurch das Kindsein eingebüßt, &bdquo;das wird ersetzt durch Pacing“, sagt die Mutter, ein bewusster Umgang mit den eigenen Energiereserven auf körperlicher, geistiger und emotionaler Ebene. &bdquo;Mittlerweile kann er besser einschätzen, ob etwas zu viel für ihn ist oder was er braucht.“ Auch die Medikamente helfen, doch der Tag des Neunjährigen sei dadurch fest durchgetaktet. Eine Prognose gebe es aktuell nicht.

&bdquo;Es ist anstrengend“ Die Eltern haben sich über &bdquo;Nicht Genesen Kids“ mit anderen Familien vernetzt, unterstützen sich gegenseitig, profitieren von Erfahrungen, denn Eltern seien oft auf sich allein gestellt. Finns Mutter ist überzeugt: &bdquo;Es braucht mehr Geld für Forschung.“ Doch es brauche mehr Aufklärung und Anerkennung. Nur so könne den Patienten und ihren Familien geholfen werden.

&bdquo;Es ist anstrengend“, gibt Finns Mutter zu, die ihren Beruf auf einen Minijob herunter gefahren hat. &bdquo;Ich mache es gern, aber man kämpft an so vielen Stellen. Das belastet auch mental immens.“ Die Ambulanz in Bethel sei eine große Unterstützung, ebenso die Oma, die helfe, wo sie kann. Und Finns Geschwister, &bdquo;die machen das toll“. Die Familie wolle sich nicht unterkriegen lassen, sagt sie kämpferisch: &bdquo;Wir versuchen, alles für unsere Kinder möglich zu machen.“

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