NRWs höchster Sozialrichter spricht in Detmold über das Entwirren des Gesetzes-Dschungels

Detmold. Recht ist vor allem eins: kompliziert. Tausende Paragrafen, endlos wirkende Gesetzestexte, wirre Bandwurmsätze und Urteile, die kaum jemand versteht. Laut Dr. Jens Blüggel, Präsident des Landessozialgerichts NRW, muss das nicht so sein. Am Donnerstag, 6. November, spricht der in Detmold lebende Sozialrichter daher auf Einladung der Juristischen Gesellschaft OWL im Landgericht Detmold (Saal 143) über ein Thema, das ihm besonders am Herzen liegt. Weshalb ist das Recht oftmals so komplex? Und was kann man dagegen tun? Das Ziel: Gesetze und Rechtsprechung verständlich machen.

Wer persönlich dabei sein oder den Vortrag online verfolgen möchte, kann sich per Mail an pressestelle@lg-detmold.nrw.de anmelden. Los geht es um 18 Uhr.

Herr Dr. Blüggel, mehr als zwei Drittel der Menschen geben laut einer Umfrage an, das Recht nicht zu verstehen. Klingt etwas ernüchternd.

Dr. Jens Blüggel: Man beobachtet schon länger, dass die Menschen das Recht verstehen wollen, dann aber häufig daran scheitern - obwohl sie sich bemühen. Gesetzestexte werden gekauft, sind zum Teil in den Bestsellerlisten von großen Buchhändlern vertreten. Der Wille der Menschen ist also da, das Recht, was sie betrifft, nachvollziehen zu können, aber ich glaube, es wird immer schwieriger, das auch zu erreichen.

Was müsste sich denn ändern?

Natürlich ist Recht immer komplex und wird es in Teilen auch immer bleiben, weil wir in einer komplexen Gesellschaft leben. Aber ich glaube, man kann an zwei Stellschrauben drehen. Zum einen kann man die Verständlichkeit des Rechtstextes selbst verbessern. Zum anderen sollte man auch das System vereinfachen. In einigen Bereichen kann man die Komplexität ganz sicher reduzieren.

Bei juristischen Texten bekommt man oft den Eindruck, ein Satz hat nur Gewicht, wenn er möglichst lang und verschachtelt ist...

Ich finde in der Tat, dass es nicht immer so kompliziert sein muss. Wir wissen heute ja eigentlich schon, was man tun muss, um eine klare Sprache zu sprechen. Kurze Sätze, wenig Fremdwörter, wenig Schachtelsätze, am besten gar keine, nur so viele Fachbegriffe wie wirklich notwendig - wenn man das beherzigt, kommt man eigentlich schon ganz gut vorwärts. In der Umsetzung klappt es nur nicht immer.

Wo scheitert die Umsetzung besonders?

Mehr als an das Sprachliche bereitet das Inhaltliche Schwierigkeiten. Macht man einen neuen Rechtssatz und der steht nicht allein, sondern trifft regelmäßig auf viele bereits vorhandene. Das muss dann eingebettet werden, und dann hat man irgendwann die Konsequenz, dass Gesetze immer länger werden. Da gibt es viele Beispiele von Pragraphen, die sich im Laufe der Jahre von fünf Absätzen auf 32 Absätze aufgebläht haben. Dann ist das Ganze auch immer schwieriger zu lesen und zu verstehen.

Und wie behalten Sie als Fachmann den Überblick?

Allein im Sozialgesetzbuch gibt es 13 Bücher - 1 bis 14, die 13 hat man tatsächlich als vermeintliche Unglückszahl übersprungen, aber das nur am Rande. Bei so vielen Rechtsnormen haben Menschen in der Tat häufig schon die Schwierigkeit, die Frage zu beantworten, wo haben wir denn die passende Regelung für mein Anliegen? Juristen gehen das mit Systematik an. Da kommt man als Fachmann also schon durch, aber selbst als Fachmann hat man bisweilen Mühe, sich neue Regelungsgebiete zu erschließen.

Was meinen Sie konkret damit?

Nehmen wir zum Beispiel die noch relativ neue &bdquo;Grundrente“ in der gesetzlichen Rentenversicherung, über die wurde ja auch in der Öffentlichkeit viel gesprochen. Die ist eingeführt worden, um die Menschen zu unterstützen, die lange gearbeitet, aber trotzdem eine kleinere Rente haben. Diese Grundrente ist verteilt über 13 Vorschriften im sechsten Buch des Sozialgesetzbuches. Und auch ich als Sozialrechtler muss mich dann schon hinsetzen und gucken, wo habe ich denn überall Vorschriften, in denen die Grundrente geregelt ist. Das ist nicht in einem Block zusammengefasst, sondern verstreut über das ganze Gesetzbuch. Das ist ein Beispiel, da könnte man es wirklich besser machen, damit Bürger es auch besser verstehen.

Wo liegt denn die Gefahr, wenn das Verstehen immer weniger wird?

Wenn Menschen den Eindruck haben, sie sind abgekoppelt vom Recht, weil das Recht so sperrig ist in seinem Zugang, dann haben wir wirklich ein Problem, finde ich, und auch ein Legitimationsproblem. Denn wir brauchen ja die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger für das Recht in einem Rechtsstaat, und die können wir nicht erzwingen.

Und was kann die Justiz dagegen tun?

Ich glaube, Justiz soll, kann und muss mehr erklären als früher. Nur durch die Urteile zu sprechen, reicht nicht mehr aus. Denn das Recht ist für seine Legitimität darauf angewiesen, dass es verstanden wird. Das ist auch ja das, was alle Richterinnen und Richter in ihren mündlichen Verhandlungen schon jetzt tun, wenn sie den Menschen erklären, warum eine Klage Erfolg hat oder eben auch nicht.

Manchmal lassen sich aber auch die Erklärungen kaum greifen.

Wir neigen in Deutschland dazu, Gesetze sehr, sehr differenziert auszugestalten. Für Bürgerinnen und Bürger wird es so sehr schwierig nachzuvollziehen, was wo und wie geregelt ist, wenn es immer kleinteiliger, immer verästelter wird, mit immer mehr Ausnahmen. Mir geht es darum: Das Recht wird in der heutigen komplexen Welt immer differenziert sein. Aber man sollte überflüssige und unnötige Komplexität vermeiden und, wenn sie vorhanden ist, abbauen. Gerade im Sozialrecht, das ist ja mein Bereich, sind viele Leistungen so miteinander verwoben, dass es bisweilen wirklich schwierig ist, den Durchblick zu behalten.

Wie wirkt sich das konkret auf das Leben der Menschen aus?

Es gibt Menschen, die scheitern daran, Sozialleistungen, auf die sie eigentlich in Anspruch haben, tatsächlich in Anspruch zu nehmen, weil sie eben irgendwo im Rechts-Dschungel stecken bleiben. Nehmen Sie zum Beispiel die Grundsicherung im Alter für Rentnerinnen und Rentner, die eine kleine Rente haben, die zum Leben nicht ausreicht. Die Grundsicherung im Alter hat man extra gemacht gegen versteckte Altersarmut. Es gibt Untersuchungen, die sagen, 50 Prozent der Berechtigten nehmen diese Leistung nicht in Anspruch. Das finde ich nicht gut, denn man hat die Leistungen und die Berechtigten, beide kommen aber nicht zusammen. Das sollte man besser machen.

Tut sich denn aus Ihrer Sicht gerade genug, um etwas zu verbessern?

Im Moment sind wir in einer interessanten Phase, weil im aktuellen Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD steht, dass man den Sozialstaat reformieren und insbesondere Sozialleistungen zusammenfassen und besser aufeinander abstimmen will. Im Vorfeld hatte sich unter anderem der Nationale Normenkontrollrat in einem Gutachten das &bdquo;Haus des Sozialrechts“ genauer angesehen, ebenso die &bdquo;Initiative für einen handlungsfähigen Staat“.

Was kam dabei raus?

Diese Analyse finde ich interessant, weil man sieht daran, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, das Sozialrecht weniger komplex und auch effektiver zu gestalten. Zum Beispiel gibt es für den Bedarf des Wohnens viele unterschiedliche Sozialleistungen, die miteinander zusammenhängen. Da gibt es das Bürgergeld, da gibt es Sozialhilfe, Wohngeld, BAföG etc. Diese Leistungen stehen zum Teil im Alternativverhältnis zueinander oder werden wechselseitig angerechnet, diese Verflechtungen machen es kompliziert.

Und wie lässt sich dieses Wirrwarr lösen?

Eine Strukturreform könnte Leistungen wieder auseinanderdröseln, die miteinander kompliziert verwoben sind. Dabei muss man immer - das wäre mein Impuls - die Sicht der Bürgerinnen und Bürger einnehmen: Entscheidend ist, dass es für die Bürgerinnen und Bürger wirklich einfacher wird.

NRWs höchster Sozialrichter spricht in Detmold über das Entwirren des Gesetzes-Dschungels

Sozialgerichte rechnen mit viel Arbeit durch Corona-Folgen

Extertaler Bündnis für Demokratie und Toleranz stellt sich vor

Autor Uwe Ritzer warnt in Detmold: „Die Wasservorräte in Deutschland schrumpfen drastisch“

TH OWL stärkt VDE-Netzwerk in Lemgo

Bad Salzufler muss als Donauschwabe 1944 aus der Nähe von Belgrad nach Österreich flüchten

Voice-Bots unterstützen bei Anfragen: Mehr individuelle Beratung im LZ-Kundenservice