
Bad Salzuflen. Am Sonntag ist Welt-Polio-Tag. Die Kontaktstelle Lippe des Bundesverbandes Polio warnt davor, dass Kinderlähmung zur vergessenen Krankheit wird, und appelliert an Eltern, Kinder zu impfen. Ernst-Wilhelm an Huef ist im Bundesverband Polio aktiv und Sprecher der Kontaktstelle Lippe.
Mit dem Slogan "Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam" sind Sie aufgewachsen. Gibt es den eigentlich noch?
Ernst-Wilhelm an Huef: Nein. Ich sage heute: "Kinderlähmung ist grausam, impfen einfach." Denn Schluckimpfung mit Lebendviren gibt es nicht mehr; heute wird mit Totimpfstoff intramuskulär gespritzt. Aber: etwa 15 Prozent aller Kinder sind dennoch nicht geimpft.
Impfungen sind ja nun mal nicht jedermanns Sache; es gibt viele Gegenargumente. Und Deutschland ist doch im Jahr 2000 offiziell durch die Weltgesundheitsorganisation WHO für poliofrei erklärt worden. Warum dann impfen?

an Huef: Polio ist eine vergessene, aber nicht ausgerottete Erkrankung. Der Virus ist aktiv in Indien, in Afghanistan und vielen weiteren Ländern Asiens und Afrikas. Viele haben das erkannt, Bill Gates etwa spendet hunderte Millionen an Dollar für weltweite Impfaktionen, ebenso Rotary International.
Sie wissen, wovon Sie reden, leben Ihr Leben seit 51 Jahren mit Polio. Macht es Sie wütend, dass immerhin 15 Prozent der Eltern ihre Kinder nicht impfen lassen?
an Huef: Das ist erschreckend! Um Kindern, aber auch Erwachsenen die schmerzhaften Torturen einer Polio-Infektion zu ersparen, muss die Impfmüdigkeit gestoppt werden. In den fünfziger und sechziger Jahren war die Impfung sogar verpflichtend, man war sich der Polio-Gefahr bewusst. Ich sage: Die Gefahr ist noch da. Und die Welt ist kleiner geworden; deutsche Firmen sind in Indien aktiv, deutsche Soldaten in Afghanistan im Einsatz.
Heißt das, die Infektionsgefahr durch den Virus ist latent vorhanden?
an Huef: Ja. Die Grundimmunisierung plus einmalige Auffrischung ist daher für alle Kinder empfohlen - am besten bei Säuglingen zusammen mit anderen Standardimpfungen wie Mumps, Masern, Röteln. Deutschland ist zwar poliofrei - das kann aber morgen anders sein. Die Eltern sind gefordert, die Gesellschaft hat sich verändert.
Ist denn später eine Auffrischung notwendig?
an Huef: Nur bei infektionsgefährdeten Personen, beispielsweise Reisenden in Gebiete mit Polio-Risiko.
Sie setzen auf Aufklärung, etwa durch den Welt-Polio-Tag am Sonntag.
an Huef: Wir werben für Impfungen; und wir Selbsthilfegruppen kümmern uns darum, dass Ärzte und Therapeuten geschult werden, insbesondere für eine frühzeitige, Leid mindernde Diagnose. Die Gruppen sind auf Messen oder Gesundheitstagen sehr präsent. Im Internet informieren wir ausführlich.
Und wo finden Erkrankte Hilfe?
an Huef: Die für Lippe zuständige Regionalgruppe Herford trifft sich an jedem vierten Samstag um 14 Uhr im Monat im AWO-Haus Oetinghausen,
Das Interview führte LZ-Redakteur Martin Hostert.
Polio
In der Akutphase einer Infektion schädigt der Virus das Rückenmark, indem er Nervenzellen, die die Muskulatur versorgen, zerstört. Muskelverkürzungen, -schwächungen und -verkümmerungen können die Folge sein, auch vollständige Lähmung. Nach einer Akutphase (sechs bis acht Wochen) leben von den überlebenden Infizierten - es sind etwa 1,3 Millionen in Deutschland - 95 Prozent ohne weitere Behinderungen.
Von den übrigen erkranken 70 Prozent nach 15 bis 35 Jahren schwerwiegend chronisch, etwa an Lähmungen, die tödlich sein können. An Huef geht davon aus, dass viele der scheinbar Geheilten viel später unter einer chronischen Folgeerkrankung (Post-Polio-Motoneuron-Syndrom) leiden.