Wie leben die Flüchtlinge, die Hals über Kopf in der Anne-Frank-Schule untergebracht worden sind? Wie ist die Stimmung unter den Familien? Wie sieht ihr Alltag aus? Die LZ hat die Unterkunft besucht.
Lemgo. Breitschultrig, die Arme hinter dem kräftigen Rücken verschränkt, ist der Mann vom Sicherheitsdienst der lächelnde Ruhepol in der einstigen Pausenhalle. Auf den grün lackierten Bierbänken, den Tischen, an denen die Zeit nicht spurlos vorübergegangen ist: ein Kommen und Gehen. Die Männer holen Toast und Honig für ihre Familien, zapfen Teewasser aus dem zischenden Samowar. Die Frauen? Reißen kleine Butterpäckchen auf, beschmieren Brote. Kinder laufen wild durcheinander, schieben kleine Spielzeugautos vor sich her - Abendbrotzeit in der Anne-Frank-Schule.
Das Ganze - es hat etwas von Klassenfahrt. Nur sind es nicht gleichaltrige Schüler, die hier zusammenleben, sondern Alte und Junge, Familien und Männer, die alleine geflohen sind. Die Hautfarben unterscheiden sich, und die Geschichten auch. Hier ist eine: Marine kommt mit ihrer Familie aus Jerewan, der Hauptstadt Armeniens. Ihr Mann hat Probleme mit dem Staat, so viel gibt das Englisch der jungen Frau her. Geflohen ist das Paar Anfang zwanzig mit dem Nötigsten - dem Baby und der Kleidung am Leib.
Im bitterarmen Land östlich der Türkei blieben Hab und Gut zurück - und die Familie. Marine hofft auf ein besseres Leben: in Sicherheit, was Leib und Leben angeht, aber auch materiell gesehen. Zu Recht oder nicht - jetzt sind sie hier.
Marines Handy klingelt, ein altes Modell, aber ein Smartphone. "Skype", der weltumspannende Chat-Dienst, poppt auf: Die Mutter der 22-Jährigen ist dran, aus Jerewan. Worüber Mama und Tochter sprechen? Marine erzählt: "Sie will wissen, wie es uns hier geht. Ich sage, dass es hart ist, mit drei Familien in einem Zimmer. Jeder lebt anders. Das ist nicht komfortabel." Morgens ist das Baby immer als erstes wach - die junge Mutter schleicht sich in die Pausenhalle hoch. Damit keiner aufwacht, wiegt sie dort ihr Kind, kann sich mit ein wenig Glück noch mal hinlegen. "Hier geht es wirklich nur um die Grundbedürfnisse", erklärt DRK-Helfer Philipp Lütke: Essen, Schlafen, Kleidung...
Die Kleiderkammer ist prall gefüllt, der Vorrat an Seife, Toilettenpapier und Zahnpasta ist stattlich. Eben-Ezer bringt das Essen, drei Mal am Tag, räumt das schmutzige Geschirr wieder ab. Es ist für alles gesorgt, könnte man meinen. Doch die Ungewissheit, das Warten, das kann den Flüchtlingen keiner nehmen. Marine bringt es auf den Punkt: "Wir erfahren nicht, was mit uns passiert."
Ein Mann, vielleicht Ende 40, liegt etwas abseits auf einer gepolsterten Bank. Er schläft. Einige Gruppe junger Männer ist zum Rauchen auf den Schulhof gegangen, auf einem klapprigen Tisch liegen aufgefächert einige Spielkarten. Viele tippen auf ihren Handys - tagein, tagaus, bestätigt Philipp Lütke.
Einen Großteil der 30 Euro Taschengeld, die die Flüchtlinge pro Woche bekommen, gehen so für Prepaid-Handykarten drauf. Das Mobiltelefon: der Draht in die Heimat und Ablenkung zugleich. Ein junger Mann mit dunkler Haut öffnet eine digitale Landkarte. Schaut er nach, wo Lemgo liegt?
Eine ehrenamtliche Helferin tritt durch die Tür - Deutschstunde: Heute üben alle, die wollen, das "sch". Die Zeit totzuschlagen, das ist die wahre Herausforderung, die sich den 150 Flüchtlingen in Hörstmar und in der Frank-Schule stellt. Wenn Ehrenamtliche kommen und einen Spielparcours für die Kinder auf dem Schulhof aufbauen, dann tauen alle auf.
Daneben ist jede Abwechslung willkommen: Wie erfüllend es sein kann, im Waschbecken einige Hosen durchzuwaschen. Schmutzig oder nicht - sei?s drum. Die Halle leert sich. Nachtruhe. Nur der Samowar zischt leise. Die Männer? Nach der Zigarette ein leises Gemurmel, einzeln gehen sie zu ihren Pritschen. In der Hand einen letzten Tee: etwas Wärme von Innen, fern der Heimat, weit weg von Familie und Freunden.
Wer sich ehrenamtlich für die in Lemgo lebenden Flüchtlinge engagieren möchte, wendet sich an das DRK - unter aktiv.im@drk-lippe.de per E-Mail.