So erlebte diese Extertalerin Kriegsflucht und Hungersnot auf Sylt

Extertal-Laßbruch. Als der Krieg im September 1939 ausbrach, war die Freude in Klein Tonin groß. Das Dorf in Westpreußen hatte in den vergangenen 19 Jahren zu Polen gehört und war durch einen Korridor vom Deutschen Reich abgetrennt gewesen. Dann marschierten gleich am ersten Tag deutsche Soldaten ein. Jubel. Nicht einmal sechs Jahre später sollte sich diese Freude in großes Leid umkehren. Deutschland war besiegt.

Adelgunde Seidel war zu Kriegsbeginn Baby, geboren am 6. November 1938. Ein Glückskind, wie sie sagt, das auf dem elterlichen Bauernhof aufwuchs und verhätschelt wurde – mit Tieren, einem Teich, einem kleinen Wäldchen und einem großen Sandkasten, in dem sich viele Kinder – Cousinen, Cousins und aus der Nachbarschaft – tummelten.

Flucht nach dem 84. Geburtstag Ausgerechnet am 84. Geburtstag des Opas, es ist der 20. Januar 1945, wendet sich das Blatt. Was genau sich ereignete, hat Adelgunde Seidels Mutter Luise Heise bereits vor mehr als 30 Jahren detailliert aufgeschrieben. Gut 30 Bewohner des 103-Seelen-Dorfes machen sich in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages mit dem Treck auf den Weg in Richtung Westen. Die meisten sind Verwandte von Luise Heise und ihren Kindern Adelgunde, damals sechs Jahre alt, und Eckhard (3): Eltern und Schwiegereltern, Schwägerinnen, Nichten und Neffen.

&bdquo;Ich kann mich noch daran erinnern, dass es sehr kalt war“, sagt Adelgunde Seidel. Doch die Flüchtlinge kommen nicht weit, sie werden noch am selben Tag wieder nach Hause geschickt, da es für den Kreis Zempelburg keinen Räumungsbefehl gibt. Immerhin: Nach der Rückkehr haben die Bewohner noch die Chance, einige Wertgegenstände und auch die Hakenkreuzfahne in einem Weckglas eingerollt im Garten zu vergraben. Dann startet am 25. Januar der zweite Fluchtversuch. 14 Stunden sind die Wagen unterwegs, die Familie kommt in Wehlershof unter – und steckt dort fest, denn es schneit so sehr, dass an Weiterreise nicht zu denken ist.

Erhängt, verschleppt, erschlagen Mehrere Tage bleiben die Heises hier, sie werden von der russischen Vorhut eingeholt. Später geht es zu Fuß weiter, manchmal werden die Flüchtlinge auch auf Wagen von den Wehrmachtssoldaten mitgenommen. Unterwegs sehen sie viel Leid oder hören davon, wie Luise Heises Bericht zu entnehmen ist: Dorfbewohner seien zu einem Marsch nach Russland gezwungen, der beliebte Pastor sei von einem Polen erschlagen worden, eine ehemalige Nachbarin habe sich mit ihren drei Töchtern erhängt, die drei Enkel vergiftet.

Die Heises schaffen es in gut drei Wochen bis Belgard in Westpommern, wo sie erst in einem Sammellager leben und sich später in einer der leer stehenden Villen niederlassen. Dort erleben sie auch, wie die russischen Panzer in die Stadt rollen, es folgen schlimme Übergriffe und Plünderungen: &bdquo;Meine Mutter ist, so viel ich weiß, nicht vergewaltigt worden.“ Die jungen Frauen verstecken, verkleiden und vermummen sich, wenn die Soldaten einfallen.

Immer wieder muss die Familie umziehen, weil die Häuser von den Siegern besetzt werden. Erinnern kann sie sich daran, wie ihre Oma den russischen Soldaten Pierogis, Kartoffelteigtaschen mit Fleischfüllung, backen musste: &bdquo;Ein Soldat hat mich auf seinen Schoß genommen und mich gefüttert. Er hat mir ein Foto gezeigt – wohl von seiner Tochter, die hatte genau so braune Zöpfe wie ich.“ Die Russen seien kinderlieb gewesen: &bdquo;Angst hatte ich aber vor den Polenkindern, die uns gejagt haben.“

Ein Jahr lang bleiben sie in der Stadt, bevor sie am 22. Februar 1946 in die britische Besatzungszone ausreisen: &bdquo;Die ganzen Verwandten waren schon weg. Aber wir sind in Belgard ganz gut zurechtgekommen, weil meine Mutter und mein Opa nahezu akzentfrei polnisch sprachen“, erinnert sich Adelgunde Seidel.

Hungern auf Sylt Auf dem Weg in den Westen werden die Heises erneut ausgeraubt - doch die in die Rocksäume der Kinder genähten Geldscheine und Sparbücher finden die Plünderer nicht. Über Stettin werden die Heises schließlich in ein Lager nach Keitum auf Sylt gebracht: &bdquo;Dort gab es jeden Tag im Wechsel Kohl- und Steckrübensuppe. Wir haben furchtbar gehungert.“ So schlimm wie nie zuvor. Adelgunde läuft mit dem kleinen Bruder von Haus zu Haus und bettelt.

Doch die Zeit auf der nordfriesischen Insel dauert nicht allzu lange. Dank einer Cousine der Mutter zieht die Familie schließlich in Riepen bei Bad Nenndorf in eine kleine Wohnung: &bdquo;Als mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft kam, hat er eine Arbeit bei Conti gefunden.“ Mutter Luise arbeitet als Schneiderin, die Familie kann sich eine Eigentumswohnung leisten, später sogar ein Haus.

Mit der Situation glücklich sei der Vater jedoch nicht gewesen – was war die stinkende Fabrikluft gegen die frische Luft als Landwirt? Den Heises wird schnell klar, dass es kein Zurück in die Heimat geben wird: &bdquo;Meine Oma hat sehr viel geweint – um die Heimat, den Hof, die Tiere, die Nachbarn“, berichtet Adelgunde Seidel.

Kirchenbücher gerettet Im März 1991 fährt das Ehepaar Seidel mit einer Cousine nochmals nach Klein Tonin – und wird dort von den Bürgern freundlich aufgenommen. &bdquo;Ich wollte die Kirche sehen, in der ich getauft und meine Eltern getraut worden waren. Doch die gab es nicht mehr.“

Stattdessen führt der Dolmetscher die Gäste zu einer alten Frau, die beim Abriss des Gotteshauses zwei Kirchenbücher gerettet hat und sie nun den Deutschen anvertraut: &bdquo;Und in dem Trauregister war auch die Heirat meiner Eltern verzeichnet.“ Adelgunde Seidel gibt sie in einer Dokumentationsstätte in Berlin ab. Sie sind Teil der Erinnerungskultur.

Und welche Spuren hat die Flucht bei Adelgunde Seidel hinterlassen? &bdquo;Ich habe kein Trauma zurückbehalten“, sagt sie. Aber von Dingen trennen könne sie, die mit ihrer Familie vor 80 Jahren bei null anfangen musste, sich nur sehr schwer. &bdquo;Und Lebensmittel kann ich schlecht wegschmeißen - noch nicht mal verschimmeltes Brot.“

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