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Schieder-Schwalenberg

Der scheidende Leiter des SOS-Kinderdorf im Interview

Schieder-Schwalenberg. Im SOS-Kinderdorf Lippe in Schwalenberg geht am 13. Mai eine Ära zu Ende. An diesem Datum hat Antonius Grothe seinen letzten Arbeitstag. Ein Vierteljahrhundert hat er die Einrichtung geleitet, in der Kinder in unterschiedlichsten Notsituationen aufgefangen und betreut werden. Mehr als drei Jahrzehnte setzte er sich für das Kinderdorf ein. Mit der LZ blickt er auf diese Zeit mit vielen Veränderungen zurück, und er verrät, was er künftig vorhat.

Herr Grothe, mehr als drei Jahrzehnte waren Sie das Gesicht des SOS-Kinderdorfes. Fällt das Loslassen nach so einer langen Zeit nicht besonders schwer?

Antonius Grothe: Wenn ich aus der Haustür gehe, dann schaue ich immer auf das Kinderdorf. Ich bin mal gespannt, wie das nach meinem letzten Arbeitstag wird. Der lag für mich bisher in weiter Ferne. Doch inzwischen gibt es immer mehr Dinge zu regeln, die sich auf die Zeit nach mir beziehen. Deshalb fange ich auch nichts Neues mehr an und überlasse das meinem Nachfolger. Die letzten Wochen sind die Zeit der Übergabe.

Was wird Ihnen denn besonders fehlen?

Grothe: Die tägliche Arbeit mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, auf die ich mich immer verlassen konnte, und die Begegnung mit den Kindern und Jugendlichen natürlich. Es gibt so viele schöne Erlebnisse, die ich mitnehme. Eins ist zum Beispiel die Aktion mit den Musical-Darstellern vom Starlight Express aus Bochum, die das Kinderdorf vor ein paar Jahren in voller Montur besucht haben. An solche Dinge erinnere ich mich gerne zurück.

Und was werden Sie nicht vermissen?

Grothe: Um den gesamten betriebswirtschaftlichen Teil bin ich nicht traurig drum. Ich bin ins Kinderdorf gekommen, um Pädagogik zu machen und den Alltag zu organisieren. Mein Anliegen war immer, hier eine hohe Qualität anbieten zu können. Und das ist uns allen, glaube ich, in den vergangenen Jahren gut gelungen.

Wie sehr hat sich die Arbeit im Kinderdorf in den vergangenen Jahrzehnten verändert?

Grothe: Am einschneidendsten war eine gesetzliche Änderungen zu Beginn der 1990er Jahre. Bis dahin wurde das Ziel verfolgt, Kinder langfristig und möglichst weit weg vom Elternhaus zu betreuen. Eine Rückführung zu den Eltern oder der Kontakt mit ihnen war nicht vorgesehen. Das hat sich mit dem neuen Gesetz gewandelt. Heute soll eine externe Unterbringung der Kinder zeitlich begrenzt sein. Ziel kann die Rückführung zu den Eltern sein. Deshalb gibt es heute auch regelmäßig Kontakte der Kinder zu den Eltern.

Haben sich im Lauf der Zeit auch die Probleme der Kinder gewandelt? Gibt es heute mehr Fälle als früher?

Grothe: Seit etwa zwei Jahren stelle ich wieder eine steigende Nachfrage nach Betreuungsplätzen für jüngere Kinder fest. Ich könnte fast alle zwei Monate eine neue Kinderdorf-Familie aufmachen, was auch ein gewisses Licht auf den Zustand unserer Gesellschaft wirft. Dabei sind die Probleme nicht unbedingt mehr geworden. Die Fälle sind aber heute wesentlich extremer als früher.

Wie wirkt sich das auf die Arbeit im Kinderdorf aus?

Grothe: Früher waren die Mädchen und Jungen, die zu uns kamen, sicher nicht einfach. Aber sie waren dankbar, dass sie hier waren. Heute erlebt man es oft, dass die Kinder teilweise kaum noch neue Bindungen zu den Erwachsenen im Kinderdorf aufnehmen können. Diese Fähigkeit und das Vertrauen sind manchen durch ihre schlimmen Erlebnisse völlig abhanden gekommen. So etwas braucht sehr viel Zeit.

Als Pädagoge und Leiter eines SOS-Kinderdorfes bekommen Sie ja jedes Schicksal fast hautnah mit. Wie sind Sie in den vergangenen Jahren damit umgegangen?

Grothe: Vor einiger Zeit habe ich noch gedacht, dass man, je länger man das macht, umso abgebrühter oder distanzierter wird. Doch das ist nicht so. Das war auch ein Grund, warum ich mich dazu entschieden habe, das Angebot der Altersteilzeit anzunehmen und etwas früher aufzuhören, als ich eigentlich müsste.

Wie sehen Sie die Entwicklung des SOS-Kinderdorfs in Schwalenberg in den vergangenen 33 Jahren?

Grothe: Als wir angefangen haben, gab es elf Kinderdorfmütter mit je sechs bis neun Kindern, die in Flachdachhäusern wohnten. Seither ist viel Geld investiert worden, das Kinderdorf ist immer modern geblieben. Heute werden mehr als 60 Kinder und Jugendliche in Kinderdorffamilien und familienanalogen Wohngruppen, auf die wir uns spezialisiert haben, betreut. Hinzu kommen Wohngruppen für Jugendliche und junge Erwachsene, die Kindertagesstätte, Beratungsangebote für Kinder und Eltern oder die Kooperation mit Schulen in Blomberg. 2007 ist das Beratungszentrum in Schieder zum SOS-Kinderdorf Lippe hinzugekommen. Wir decken die gesamte Palette der Jugendhilfe ab.

Wie geht es nach Ihnen weiter?

Grothe: Mein Nachfolger wird Anton Schuff, der derzeit die SOS-Kinderdorf-Einrichtungen in Detmold leitet. Die werden am 1. Juli mit dem SOS-Kinderdorf Lippe in Schwalenberg und dem SOS-Beratungszentrum in Schieder fusionieren. Alle diese Einrichtungen laufen dann unter dem gemeinsamen Namen SOS-Kinderdorf Lippe.

Wo wird man Sie in Zukunft treffen? Auf Weltreise oder im heimischen Garten?

Grothe (schmunzelt): Weder noch. Meine Frau unterrichtet noch einige Jahre an der Grundschule in Schwalenberg, ehe sie in Ruhestand geht. Von daher ist noch keine Reise gebucht. Und der Typ Hobbygärtner bin ich auch nicht. Ich singe in zwei Chören und bin kulturell interessiert. Außerdem bin ich seit 2004 Mitglied im Kreistag und Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses dort und seit 2014 zweiter stellvertretender Verbandsvorsteher im Landesverband Lippe. Das alles mit meiner Arbeit unter einen Hut zu bringen, war in der Vergangenheit nicht immer einfach. Deshalb freue ich mich darauf, mich künftig mehr auf diese Dinge konzentrieren zu können.

Das Interview führte LZ-Redakteur Patrick Bockwinkel.

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