Eintopf für Kinder, Vergewaltigung der Mütter: So erlebt ein Schwalenberger 1945/46

Schieder-Schwalenberg. Manche Dinge vergisst man nicht, auch wenn sie in der Retrospektive nebensächlich erscheinen. Klaus Friedrich erinnert sich an die Enge des Güterwaggons, in dem seine Familie wie Vieh von Niederschlesien nach Westen transportiert wurde. Tagelang. Keine Ahnung, ob es Tag oder Nacht war, es war ja immer dunkel. Und plötzlich begann der Vater laut in die Finsternis zu fluchen - er hatte sich mitten in eine Lache ausgelaufenen Rübenkrauts gesetzt. Ausgerechnet Rübenkraut. &bdquo;Wer kommt denn darauf, so was mit auf die Flucht zu nehmen?“, Klaus Friedrich schüttelt den Kopf bei der Erinnerung.

Friedrich kommt als ältestes von drei Kindern am 12. Januar 1935 in Schönbrunn (heute Słotwina) zur Welt, einem 800-Seelen-Dorf im Kreis Schweidnitz (heute Świdnica), 50 Kilometer südlich von Breslau. &bdquo;Es gab eine Durchgangsstraße, rechts und links davon Bauernhöfe, erinnert er sich, daneben einen kleinen Dorfladen und eine Dorfschule. In die ging der kleine Klaus auch bis zur vierten Klasse, dann sollte er zum Gymnasium wechseln. Doch dazu kam es nicht mehr.

Früh in die NSDAP eingetreten Die Familie lebt im Gegensatz zu den Nachbarn nicht von der Landwirtschaft, der Vater, Jahrgang 1913, ist früh in die NSDAP eingetreten. Er arbeitet im Landratsamt von Schweidnitz, als rechte Hand des Bürodirektors, der seinen Arm wiederum im Ersten Weltkrieg verloren hat. Der Vater selbst hat etwas weitaus Schlimmeres in jenem Krieg verloren: Seinen eigenen Vater, den er nie kennenlernen durfte.

Dann wird der junge Familienvater kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs noch eingezogen. Seine Frau und die drei Kinder, das jüngste erst am 10. April 1945 geboren, bleiben zurück in Schönbrunn: &bdquo;An Flucht haben wir nicht gedacht, wir hatten doch gar keine Möglichkeiten dazu“, sagt Klaus Friedrich. Als die Rotarmisten nach Westen vordringen und das Dorf überrollen, versucht die Familie zu fliehen, wird jedoch zweimal eingeholt. &bdquo;Und eins muss man sagen: Die Russen waren wirklich sehr kinderfreundlich“, betont Klaus Friedrich und denkt an die Begebenheit, bei der seine Mutter ihm mit Kochgeschirr zur Gulaschkanone der Soldaten vor die Tür schickt: &bdquo;Und ich habe einen ordentlichen Schlag bekommen.“

Nein, den Kindern hätten die Russen nichts getan, wohl aber den Frauen: &bdquo;Ich war mit meinen zehn Jahren frühreif und habe sehr wohl verstanden, worum es da ging.“ Dann hört er Berichte, nach denen die 16-jährige Tochter seines Onkels im Nachbardorf ins Getreidefeld flüchtete, von den Soldaten aufgespürt und so schlimm zugerichtet worden sei, dass sie an den Folgen der Übergriffe letztlich verstarb.

Die Mutter beschützt Sein Vater schlägt sich ein halbes Jahr später, als Gärtner verkleidet, von Tschechien zurück zu seiner Familie durch. Fortan setzen er und sein ältester Sohn alles daran, um die Frau und Mutter vor den Übergriffen der &bdquo;Siegermacht“ zu schützen: &bdquo;Wir wohnten im ersten Stock. Und wenn die Russen kamen, haben wir alles verrammelt und verbarrikadiert.“ Es gab sogar eine Strickleiter außen am Haus, mit der die Mutter hätte fliehen können - aber benötigt wird sie nicht, die Mutter bliebt unversehrt.

&bdquo;Mein Vater war ein weitsichtiger Mann: Er hat immer gesagt: Wir können hier nicht bleiben.“ Als die Polen im Dorf einquartiert werden - zwangsumgesiedelt aus ihrer Heimat in Ostpolen, das nun zur Sowjetunion gehört - dauert es nicht lange, bis Familie Friedrich abtransportiert wird. Der Vater hat sich aus einem Wäschekorb einen Handwagen beim Stellmacher anfertigen lassen, auf den nun einige Habseligkeiten gepackt werden.

Doch viel bleibt von dem Besitz nicht übrig: &bdquo;Mit dem Pferdewagen wurden wir zu einem Barackenlager gebracht, wo wir eine Nacht verbrachten. Am nächsten Tag mussten wir vorbei an langen Tischen, hinter denen Polen standen und unsere Sachen inspizierten - alles, was sie gebrauchen konnten, haben sie uns abgenommen.“ Auch an die Leibesvisitationen der Frauen kann sich Klaus Friedrich erinnern - schließlich hätte es ja sein können, dass sie zwischen ihren Beinen Schmuck oder Gold versteckt hatten.

&bdquo;Dann mussten wir eine breite Treppe hinauf zum Bahndamm, wo wir auf Güterzüge verladen wurden.“ Der Anblick, der sich ihm bot, ist unvergessen: &bdquo;Rechts und links von der Treppe lagen verstreut überall Sachen und Körbe, die die vielen alten Menschen nicht die Treppe hochtragen konnten.“

Wie lange er mit seinen Eltern, Geschwistern und der Oma in dem Güterwaggon ohne Licht unterwegs war, daran kann er sich nicht erinnern. Immer wieder habe es Stopps gegeben, immer sei es dabei zu Überfällen auf die Vertriebenen gekommen, die sowieso nichts mehr hatten. Schließlich landet der Zug im Westen - in Elverdissen bei Herford. Die Vertriebenen werden in ein Fabrikgebäude der Firma Ahlers gebracht und später in ein Hotel in Brackwede. Zu sechst wird ihnen eine Zwei-Zimmer-Wohnung zugewiesen: &bdquo;Da waren wir natürlich nicht gern gesehen.“

Fürs Gymnasium fehlte das Geld Klaus Friedrich geht nachts zu den nahe gelegenen Bahnschienen und steigt auf die Güterzüge, die Kohlen geladen haben. Auch dem alten Nachbarehepaar gibt er von seiner Beute etwas ab: &bdquo;Dafür gab es dann manchmal 50 Pfennige“. Er macht ein anerkennendes Pfeifgeräusch: &bdquo;50 Pfennige waren schon was.“ Denn als Vertriebene müssen die Eltern bei null anfangen. &bdquo;Mein Lehrer kam zu meinem Vater und wollte ihn überzeugen, dass ich zum Gymnasium gehe. Aber mein Vater hat gesagt: Das geht nicht - ich habe drei Kinder, da kann ich kein Schul- und Straßenbahngeld zahlen.“

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Also geht Klaus auf die nahe gelegene Mittelschule, macht später eine Maurerlehre und wird auf Umwegen - er besucht die Ingenieurschule für Hoch- und Tiefbau in Höxter - Architekt. &bdquo;Damals hatte ich kein Selbstwertgefühl, ich wollte kein Vertriebener, kein Flüchtling sein.“ Später habe sich das geändert, er ist in seinem Beruf erfolgreich und anerkannt, baut unter anderem das Volksbankgebäude in Blomberg.

Und wie denkt er heute über sein Schicksal als Vertriebener? Dreimal war er noch in seiner alten Heimat zu Besuch und hat den Verfall erlebt. &bdquo;Ich habe Glück gehabt - und ich habe auch Glück gehabt, dass ich letztlich mit meiner Familie in Brackwede gelandet bin und nicht irgendwo im Osten“, glaubt er.

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