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Bielefeld

Vier Tage bis zur Abschiebung

Integrierter Flüchtling sollte sein komplettes Leben abbrechen / Freunde und Lehrer sorgen für Aufschub

Sajib Faruk steht mit seinen ehrenamtlichen Paten Iris und Thomas Hohberg auf dem Alten Markt. Das ist für ihn keine Selbstverständlichkeit mehr, seit der junge Flüchtling mit Erreichen seiner Volljährigkeit nach Bayern verteilt werden sollte. Erst politische Intervention konnte diese Katastrophe verhindern. - © FOTO: SARAH JONEK
Sajib Faruk steht mit seinen ehrenamtlichen Paten Iris und Thomas Hohberg auf dem Alten Markt. Das ist für ihn keine Selbstverständlichkeit mehr, seit der junge Flüchtling mit Erreichen seiner Volljährigkeit nach Bayern verteilt werden sollte. Erst politische Intervention konnte diese Katastrophe verhindern. (© FOTO: SARAH JONEK)

Bielefeld. Seine Familie ist tot, sein Geburtsland Myanmar kennt er nur aus Erzählungen. Seit seinem vierten Lebensjahr ist Sajib Faruk Flüchtling - seit er 16 Jahre alt ist, lebt er als "unbegleiteter, minderjähriger Flüchtling" in Bielefeld. Und das mit echten Zukunftsperspektiven: Er ist Klassenbester, spricht sehr gut Deutsch und strebt sein Fachabi an. Endlich schien alles gut zu werden, bis er einen Tag vor Heiligabend aufgefordert wird, innerhalb von vier Tagen alle Zelte in Bielefeld abzubrechen und nach Bayern zu ziehen.

Sajib ist geschockt. Mit seiner Volljährigkeit werden sein komplettes Dasein und seine Fortschritte, die er im Clearinghaus und in der Berufsschule erreicht hat, wieder auf Null gestellt. Der junge Mann steht plötzlich ganz alleine da, er soll sofort seine neue Wohnung, seine Zukunftsperspektiven und seine Freunde verlassen. Dafür hat er vier Tage Zeit. Denn er soll umgehend in eine Erstaufnahmestelle für Asylbewerber kommen, obwohl er vor 16 Monaten bereits in Bielefeld aufgenommen worden war.

Information
Clearingverfahren

Reist ein minderjähriger Flüchtling ohne Begleitung nach Deutschland ein, startet ein Clearingverfahren.
Dabei werden die Identität, nötige Hilfen, eine Unterbringung, die Inobhutnahme durch das Jugendamt und weitere Perspektiven geklärt.
In NRW gibt es Clearinghäuser für Minderjährige in Dortmund und Bielefeld.
Wird ein Flüchtling volljährig, muss er das Clearinghaus verlassen und einen Asylantrag stellen.

Zum Glück hat Sajib in nur 16 Monaten in Bielefeld Freunde und Unterstützer gefunden. Und die werden aktiv: Seine ehrenamtlichen Paten Iris und Thomas Hohberg verhindern zunächst, dass der 18-Jährige direkt von der Zentralen Ausländerbehörde (ZAB) per Bahn nach Zirndorf geschickt wird. Seine Rechtsanwältin Catrin Hirte-Piel legt noch am selben Tag Widerspruch ein. Allerdings ohne Erfolg. Per Antwortfax lehnt die zuständige Bezirksregierung in Arnsberg den Widerspruch wenige Stunden später ab.

Die bisher vorbildlich gelungene Integration und die Investitionen in den Jugendlichen in Bielefeld werden bei der Antragstellung gar nicht berücksichtigt: "Sajib hatte alle Belege und Zeugnisse vorgelegt. Trotzdem haben die ihn im ZAB behandelt, als wäre er mit seinem 18. Geburtstag das erste Mal in Deutschland", erklärt Iris Hohberg. Als Asylbewerber in Bayern ist dem Jungen, der in drei Monaten Deutsch lernte, der Besuch einer Schule oder eine Ausbildung untersagt.

Als alle Telefonate erfolglos enden, informiert Kristin Nahrmann, Leiterin von Sajibs Cricketteam, über den Vorgang die Bielefelder Medien. Auch der Landtagsabgeordnete Günter Garbrecht (SPD) erfährt davon und nimmt Kontakt mit dem Regierungspräsidenten in Arnsberg auf. Der Kampf um den begabten staatenlosen Jungen bekommt nun eine politische Dimension. Das führt plötzlich zum Ziel: Am Vormittag des Heiligabends erreicht Hirte-Piel eine Mail: "Die Verteilungsentscheidung ist bis auf Weiteres auszusetzen. Im Januar ist zu prüfen, ob ein Verbleib aus humanitären Gründen in NRW möglich ist."

Noch ist also nichts endgültig, trotzdem ist Sajib Faruk "unheimlich glücklich. Das ist für mich ein großes Weihnachtsgeschenk." Garbrecht erklärt: "Bei der Finanzverwaltung gibt es einen Weihnachtsfrieden, für Flüchtlinge gab es scheinbar kein Pardon." Er kündigte an, dass diese Lücke in der neuen Gesetzgebung geregelt werden müsse. Im Januar sollen deshalb in Düsseldorf Gespräche mit dem Jugendministerium und den Ausländerbehörden geführt werden.

Denn der 18-Jährige ist kein Einzelfall: Anette Seyer, Schulleiterin des Berufskollegs Tor 6, wo minderjährige Flüchtlinge Deutschkurse belegen, berichtet: "Wir haben zur Zeit fast jede Woche einen Betroffenen." In den Schulen und Clearinghäusern würden die Traumatisierungen der Jugendlichen aufgearbeitet und mit dem 18. Geburtstag werden sie wieder herausgerissen. "Aktuell haben wir richtig Angst, mit den Jugendlichen ihren 18. Geburtstag zu feiern", so Seyer.

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