Bielefeld. „Du warst im Fernsehen“, überraschte eine Mitschülerin vorige Woche Mitschülerin Jana (Name geändert) auf dem Schulhof. Die 14-Jährige war geschockt. Seit Wochen sendet sie Livebilder von sich über das Videoportal „YouNow“ ins Internet – ohne das Wissen ihrer Eltern. Dass sie jetzt aber als Beispiel für den neuesten Teenie-Trend im Fernsehen herhalten musste, wusste selbst sie nicht.
Janas Mutter (45) war fassungslos, als ihre Tochter von ihrem Hobby erzählte. Zwei Klicks bei Google und sie hatte den gut siebenminütigen Beitrag, der am 24. Februar ausgestrahlt wurde, im Internet gefunden. Das Gesicht der Realschülerin wurde technisch unkenntlich gemacht. „Ihre Mitschüler haben Jana aber trotzdem sofort erkannt. Auch weil ihre Stimme deutlich zu hören war“, sagt die 45-Jährige, die nicht geahnt hatte, was ihre Tochter mit ihrem Handy trieb.
Jugendschützer warnen seit Wochen vor dem neuen Trend in Tausenden Kinderzimmern. Mit YouNow kann man ganz einfach Livebilder von sich ins Internet senden und mit anonymen Chatteilnehmern interagieren. Teenager kokettieren mit Komplimenten, zeigen sich, werden aber auch von den Zuschauern gefragt oder sogar aufgefordert, für ein paar virtuelle Geschenke Wünsche zu erfüllen.
Viel zu offen geben einige dabei ihre Adressen, Handynummern oder andere sensible Details preis. Schnell werden vor allem die Jüngeren Zielscheibe sexueller Gelüste: Jana wird nach dem Alter gefragt, nach ihrer Schule und plötzlich schreibt einer: „Meine Spermien sind zauberhaft.“ Als die 14-Jährige den Satz während ihrer Übertragung vorliest, hört man von ihr nur: „Ihhh.“ Pro7 zeigt den Moment als abschreckendes Beispiel.
„Ich komme mir vor, als hätte ich meine Tochter für Pädophile freigegeben“, sagt ihre Mutter angewidert. Wie oft und wie lange die 14-Jährige YouNow genutzt hat, weiß sie nicht. „Jana spricht nicht mehr darüber. Die blockiert total.“ 68 Videos innerhalb von 30 Tagen zeigt ihr Profil an, manche Übertragungen waren ganz kurz, andere dauerten mehr als zwei Stunden. 194 Fans verfolgten ihre Beiträge – meistens während die Mutter arbeitete.
Sexuelle Inhalte oder nackte Haut sind bei YouNow verboten. Mindestalter der Nutzer: 13 Jahre. Doch viel zu schnell geht der Chat vonstatten. Eine effektive Kontrolle bei zwei Millionen Nutzern täglich ist unrealistisch. Das Familienministerium warnt deshalb: „Kinder und Jugendliche werden auf YouNow nicht wirkungsvoll gegen Übergriffe und Gefährdungen geschützt.“
Jana hat jetzt erst einmal Handyverbot. Am Mittwoch war ihre Mutter bei der Polizei, um Anzeige gegen Pro7 und YouNow zu erstatten. „Ich will, dass diese Bilder verschwinden.“ Der Beamte zweifelte: „Pro 7 wird sich abgesichert haben.“ Rechtsanwältin Daliborka Djukic-Schröder sieht das anders: „Abgesichert? Die Erziehungsberechtigten wurden jedenfalls nicht gefragt.“ Die Anwältin droht Pro7 im Auftrag der Mutter nun mit einer Unterlassungserklärung. „Damit die Bilder nicht auch noch in anderen Sendungen auftauchen.“ Auch eine Strafanzeige ist für sie denkbar: „Nach Paragraf 201a – Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen.“
Pro7-Sprecher Christoph Körfer entgegnet auf Anfrage: „Richtig ist, dass man für die Veröffentlichung von Bildnissen von Minderjährigen die Einwilligung der Erziehungsberechtigten braucht, sofern sie erkennbar gezeigt werden. An diese Vorschrift sowie an die für die Ausstrahlung von Fernsehprogrammen geltende Rechtslage halten wir uns selbstverständlich. Im angesprochenen Fall wurde das Gesicht des Mädchens daher unkenntlich gemacht.“
Djukic-Schröder reicht das nicht: Sie ist überzeugt, das hier der Schutz von Kindern höher wiege als die Pressefreiheit. Auch bei YouNow will sie die Löschung von Janas Videos erwirken. Ihr jüngstes ist noch abrufbar. Allerdings sitzt der Anbieter in New York, dort gilt ein anderes Rechtssystem.
Info: Jugendtrend „YouNow“
YouNow ist ein Videoportal mit Sitz in New York. Die Nutzer können mit Hilfe von Handykamera oder Computer-Webcam per „Live-Streaming“ (Echtzeitübertragung) Videos übertragen. Andere Nutzer können diese Übertragungen anonym ansehen und im Chat kommentieren und bewerten. YouNow ist laut Wikipedia seit seiner Gründung 2011 rasant zum führenden Live-Stream-Portal für Kinder und Jugendliche aufgestiegen. 700.000 Deutsche sind bei YouNow angemeldet, weltweit nutzen täglich zwei Millionen Menschen den Dienst. Das Mindestalter liegt bei 13 Jahren, die Anmeldung erfolgt über Facebook-, Twitter- oder GooglePlus-Konten.