Journalisten pilgern nach Gütersloh: ESG bei Einsatz von ChatGPT im Unterricht führend

Gütersloh. Es ist ein bisschen wieder wie 1999. Damals, als das Evangelisch Stiftische Gymnasium schrittweise anfing, seinen Schülern den Laptop als reguläres Arbeitsmittel zu erlauben, staunte die Bildungswelt. Reporter von weither reisten nach Gütersloh, priesen das ESG als fortschrittlich und fanden wohl auch den Spagat zwischen Moderne und gleichzeitigem Festhalten an Posaunenchor, Schulpfarrer und anderem Traditionellen so faszinierend. Nun, seit einigen Wochen, beginnt das Staunen aufs Neue.

Das ESG, die Vorreiterschule. Wieder tut sie sich auf einem neuen, aufregenden Feld hervor. Doch diesmal geht es nicht um ein Hilfsinstrument wie Taschenrechner oder Computer, diesmal geht ums Eingemachte. Um den Inhalt. Um KI, künstliche Intelligenz. Und folglich darum, in welcher Weise man dieser Form von Intelligenz erlauben darf, den Unterricht zu verändern, ihn womöglich sogar zu bestimmen, zu revolutionieren.

Die Reporter von Spiegel, Zeit, taz, RTL, WDR, die sich dieser Tage die Klinke des altehrwürdigen Gemäuers an der Feldstraße in die Hand geben, scheinen sich einig zu sein: Keine andere Schule in Deutschland ist derart weit im Umgang mit der künstlichen Intelligenz. Die Journalisten setzen sich in den Unterricht und verfolgen, wie die Schüler mit Erlaubnis ihrer Lehrer ChatGPT aufrufen. Sie sehen, wie eine Roboterin namens Alice auf dem Bildschirm erscheint, wie die Schüler sie befragen, wie sie ihre sekundenschnell gelieferten Ergebnisse bewerten und wie sie sie in ihre eigenen Werke übernehmen.

Wer ist schlauer? Der Lehrer lässt seine Klasse gegen die Maschine antreten Es ist ein spannendes, revolutionäres Experiment, dass da am Stiftischen Gymnasium abläuft. Derjenige, der es vorantreibt, ist Hendrik Haverkamp, 46. Er unterrichtet Deutsch und Sport, und er trägt am ESG einen besonderen Titel: &bdquo;Koordinator für Digitalität“. Haverkamp lässt die Reporter in seinen Unterricht und inszeniert mit seiner Klasse 8a einen Wettbewerb, in dem er die Schüler gegen die Maschine antreten lässt. Wer liefert die bessere Gedichtsanalyse? Wer antwortet gehaltvoller, origineller auf die Frage, ob ein Laptopverbot an den Schulen sinnvoll wäre? Und wie verändert sich die Klugheit der Antwort, wenn die Frage exakter gestellt wird, mit zusätzlichen, präziseren Informationen? Gewinnt dann plötzlich Alice?

Dass ChatGPT Erstaunliches vermag, weiß man inzwischen. Keine Frage, auf die dieses digitale Wunderding keine Antwort hätte. Mal mir den Berliner Platz im Stil von Monet, komponiere mir ein Heimatlied nach Art von Hans Werner Henze, schreibe mir einen sechsseitigen Aufsatz über die Auswirkungen der kommunalen Gebietsreform im Kreis Gütersloh: ChatGPT liefert umgehend. Ist die Arbeit zu perfekt, grammatikalisch und orthographisch fehlerfrei und damit verdächtig? Okay, schreibe mir den Aufsatz noch mal, aber bitte im holprigen Stil eines Achtklässlers.

Der Roboter kann alles, auch Lehrer austricksen. Die Frage drängt sich also auf: Was dürfen die Schüler damit?

Bereits im August vergangenen Jahres eine Task Force gegründet Das ESG hat diese Grundsatzfrage für sich früh entschieden. Bereits im August 2022, als Haverkamp & Co. Wind davon bekamen, dass ein extrem leistungsfähiges KI-Programm bald für alle zugänglich sein werde, gründeten sie eine Task Force. &bdquo;Uns war klar, da kommt ein großes Ding. Eines, das unseren Unterricht tiefgreifend verändern wird.“ Dass das Kollegium in Sachen Digitalität seine Antennen stets ausgefahren hält, war gewiss von Vorteil, ebenso die Besetzung des Schulleiterpostens: Martin Fugmann, 60, leitete, bevor er ans ESG kam, die German International School im Silicon Valley. Er sah selbstfahrende Autos an seiner Schule vorfahren, während man in Europa bis heute vor Entsetzen zur Seite springt.

ChatGPT verbieten? Eine Brandmauer gegen die KI hochziehen? &bdquo;Aussichtslos“, sagt Haverkamp. &bdquo;Die KI ist zu verlockend, zu chancenreich. So etwas lässt sich nicht abwehren.“ In der Task Force sei man sich sofort klar gewesen: &bdquo;Es muss darum gehen, die lernförderlichen Potenziale zu nutzen“. Wann und wie setzt man die KI ein? Können sich Schüler und Lehrer Routinearbeiten abnehmen lassen? Soll es den Schülern erlaubt sein, Teile ihrer Hausaufgaben von der KI schreiben zu lassen? Müssen sie noch Vokabeln büffeln, wo die künstliche Intelligenz doch jeden Satz fehlerfrei übersetzen kann? Müssen sie noch Rechtschreibung lernen?

Haverkamp findet derlei Fragen keineswegs abwegig. Unterricht ändere sich. Früher mussten die Schüler Latein und Altgriechisch beherrschen und ihre Finger gefälligst Finger vom Taschenrechner lassen, heute lächelt man darüber.

Sogar eine Klassenarbeit durften sie schon damit schreiben Schon im September, zwei Monate bevor ChatGPT die Bildungs- und einige andere Welten erschütterte, ließ Haverkamp seine 8a eine Klassenarbeit im Fach Deutsch schreiben. Er hatte mit den 25 Schülern dieser Klasse den Roboter ausprobiert, sie hatten über dessen Vorzüge und Schwächen gesprochen. Sie hatten registriert, dass Alice Fehler macht, wenn sie nicht mit dem entsprechenden Wissen gefüttert wurde, sie merkten, dass sie sich auf gut Glück etwas zusammenreimt, was womöglich gar nicht passt. Doch nun, bei der Klassenarbeit, durften sie sich von Alice helfen lassen, ganz offiziell. Erste Bedingung: Sie mussten kenntlich machen, welche Anteile von Alice stammten und welche von ihnen. Zweite Bedingung: Sie mussten darlegen, welche Aussagen der Roboterin sie wegließen und aus welchem Grund.

Über Ablauf und Ergebnis dieses Experiments berichtete Haverkamp in seinem &bdquo;Twitter-Lehrerzimmer“, eine internationale Community, die sich untereinander über schulische Angelegenheiten austauscht und der er schon länger angehört. &bdquo;Danach stand mein Telefon nicht mehr still.“ Anrufe aus aller Welt gingen ein, von Lehrerkollegen, Bildungswissenschaftlern, Instituten. Seither ist er ein gefragter Mann.

Haverkamp und seine Klasse waren die ersten, die die KI konsequent im Unterricht einsetzten und die ersten, die damit eine Klassenarbeit schrieben. Doch nicht nur das machte seinen Report so interessant: Der ESG-Lehrer stellte fest, dass bei den guten Schülern der KI-Anteil vergleichsweise gering ausfiel. &bdquo;Sie nutzten die künstliche Intelligenz nur als Inspirationsquelle.“ Die schlechteren Schüler hingegen hatten mehr übernommen.

Bildungsministerien und Forschungsinstitute klopfen an Dass ChatGPT Fragen nach Lernmethoden und Prüfungsformen aufwirft, dass der Bot es dem Lehrer schwer macht, Fremd- und Eigenleistung zu unterscheiden, war klar, doch nun offenbarte sich ein weiteres Problem: die Bildungsschere. Wenn starke Schüler mehr von der KI profitieren als die schwächeren – weil die einen die gewonnene Zeit für weitere Gedanken, die anderen aber fürs Rumdaddeln nutzen – , geht es plötzlich auch um Bildungsgerechtigkeit. Dieses Problem könnte sich verschärfen, sollte die KI irgendwann Geld kosten und ihr Angebot nach Qualität staffeln: die Premium-Version für jene, die sichs leisten können, die Standardversion für alle anderen.

Haverkamp gehört mittlerweile einem &bdquo;virtuellen Kompetenzzentrum“ an, einem hochrangig angesiedelten Gremium, dem Doris Weßels vorsteht, Professorin für Wirtschaftsinformatik in Kiel. Sie ist diejenige, die man in den Talkshows und in den Tagesthemen sieht, jene, die deutschlandweit als Expertin für künstliche Intelligenz gilt. Weßels hat Haverkamp in ihr Team berufen, weil er derjenige ist, der sich am besten im Bereich Schulen auskennt. Seither steckt der Gütersloher tief in den Beratungszirkeln: Schulen, Universitäten, Bildungsverwaltungen und Medien klopfen bei ihm an. Nächste Woche hat er einen Termin im Ministerium.

Dass sich Schulen dringend überlegen müssen, wie sie mit KI umgehen, ist inzwischen allen aufgegangen, auch NRW-Bildungsministerin Dorothee Feller. Vor knapp zwei Monaten gab sie einen Leitfaden heraus. Darin steht, dass ein generelles Verbot von KI nicht in Frage komme. Vielmehr gehe es um deren Chancen, deren lernförderlichen Einsatz – genau das also, was die Task Force am ESG von Anfang an erkannte. Die KI, so Ministerin Feller, habe viel Potenzial: Sie könne Formulierungs- und Korrekturvorschläge anbieten, Schreibprozesse steuern, Rückmeldungen geben.

Als die KI ausfiel, gerieten die Schüler in helle Aufregung &bdquo;Es scheint, als geht es in eine vernünftige Richtung“, sagt Haverkamp. Die KI werde sich nicht aufhalten lassen, schon gar nicht in der Schule. Wie schnell sich der Chatbot durchgesetzt hat, zeigt eine Umfrage: Als Haverkamp Anfang Januar seine ESG-Schüler fragte, wer ChatGPT aktiv nutze, bejahten das 20 Prozent; im März waren es schon 80 Prozent. Bezeichnend ein Vorfall am Montag vor den Osterferien: Weil die Firma hinter ChatGPT (das US-Unternehmen OpenAI) technische Probleme hatte, war Alice einige Stunden lang nicht verfügbar. &bdquo;Da war aber holla was los“, erzählt Haverkamp. &bdquo;Die Schüler waren in heller Aufregung, weil das Gerücht ging, das ESG habe ChatGPT nun doch verboten.“

Nun, es stellte sich als Irrtum heraus. Der Vorfall sei aber bezeichnend für die Reize von Alice. &bdquo;Die Schüler haben großen Bock darauf. Jetzt müssen wir nur zusehen, dass wir diese Motivation nutzen.“ Nicht Misstrauen sei die Antwort auf KI, sondern Begleitung. &bdquo;Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass Schüler lernen wollen und ihnen die persönliche Ansprache durch einen Lehrer wichtig ist. Das wird sich niemals ändern. Also kommt es jetzt darauf an, sie nicht zu langweilen, sondern mit neuen, interessanten Aufgaben zu locken.“ Sollen wir heute im Sportunterricht mal Übungen machen, die uns Alice vorschlägt? Wollen wir mal darüber reden, ob die Illustration, die uns Alice zum &bdquo;Mondnacht“-Gedicht von Eichendorff gefertigt hat, dem Wesen dieses Stückes entspricht?

Aufgaben nach Schwierigkeitsgrad staffeln, sie je nach Stärken und Schwächen der Schüler individualisieren: Auch das kann die KI. &bdquo;Den Unterrichtsstoff zuschneiden“, so nennt Haverkamp das. Zugleich werde es verstärkt darauf ankommen, Medienkompetenz auszubilden, die Fähigkeit also, Fake News zu erkennen, Nachrichten einzuordnen, gesichertes von ungesichertem Wissen zu unterscheiden. Und, was die Prüfungen betreffe: Da gelte es die Bewertungsmaßstäbe zu verändern: Nicht das Resultat ist entscheidend, sondern der Arbeitsprozess. Wie war die Recherche des Schülers, wie war der Umgang mit den Quellen, wie die Zusammenarbeit mit den Mitschülern? &bdquo;Vielleicht“, so Haverkamp, &bdquo;läuft es auch auf eine Renaissance der mündlichen Prüfung hinaus.“

Eine KI-Firma stellt kostenlose Accounts bereit Da das private Einloggen der Schüler in einen US-Server ein No-Go für eine deutsche Schule ist, hat das ESG reagiert und nun eine Vereinbarung mit Mindverse getroffen. Mindverse ist ein rasant wachsendes Berliner Startup, das in etwa das tut, was Softwarefirmen für SAP leisten: Es modelliert ein Computerprogramm um, in diesem Fall die KI – und zwar so, dass sie für Schulen besser geeignet ist.

Mindverse hat die kostenfreie Sprach-KI einfach in seine eigene Software eingebaut. Sie kann im Vergleich zu ChatGPT besser Deutsch und ist zudem moderner, weil sie sich Live-Daten aus dem Internet zieht und nicht auf Datensätze nur bis 2021 angewiesen ist. Weil Mindverse an einer Verbreitung an Schulen interessiert ist, kooperiert es mit dem Pionier ESG und stellt ihm kostenlose Accounts zur Verfügung. Zugleich verbessert es den Datenschutz: Die Accounts sind anonymisiert. Schüler und Lehrer können ihre Eingaben (Prompts) ohne die Sorge tätigen, andere könnten das nachverfolgen.

Mittlerweile lässt Haverkamp seinen Unterricht wissenschaftlich begleiten. Am Donnerstag vor den Osterferien waren Professor Thomas Süße und sein Team erstmals da. Sie betreten Neuland – bislang fehlt es an Untersuchungen zum KI-Einsatz an Schulen. Und sie kommen, welch glückliche Fügung, direkt aus der Nachbarschaft: Fachhochschule Bielefeld, Campus Gütersloh. Wenn Süße seine Studie vorlegt oder, voraussichtlich im Herbst, ein Zwischenergebnis präsentiert, wird das für die Journaille erneut ein Grund sein, nach Gütersloh zu blicken.

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